Ist im Islam die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsschule notwendig?

Ein typisches Merkmal derjenigen, die als Muslime in die Religion hineingeboren werden, ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsschule (arab. Madhab). Der Begriff Madhab bedeutet linguistisch „gehen“ oder „eingeschlagener Weg“. Fachspezifisch bedeutet dies nichts anderes als die Art und Weise des Vorgehens und der Methode der Rechtsschulen, die sich hauptsächlich an die Primärquellen (Koran und Sunna) orientieren, um neue Rechtsurteile ableiten zu können (vgl. Die Geschichte des Islam, S. 108, Fuat Sanac).

In den islamischen Katechismen (türk. Ilmihal) wird die besondere Stellung der Rechtsschulen innerhalb des Glaubens wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Wer keinem Madhab (Rechtsschule) angehört bzw. keinen Taqlit (Nachahmung) ausübt, ist sündhaft; manche sagen sogar: ungläubig (Kafir)“ (siehe hierzu: Handbuch Islam, S. 116, Ahmad A. Reidegeld). In einer Überlieferung (Hadith) wird zudem auch tradiert, dass selbst der Prophet Muhammad (s) zugesichert hat, dass seine Gemeinde in Vertretung durch die Rechtsschulen sich nie in einem Irrtum befinden wird.  „Meine Gemeinde wird nicht in einem Irrglauben verfallen sein“. Auf diesen Hadith beziehend, schrieb der ehemalige Oberhaupt der Religionsbehörde der Diyanet Ömer Nasuhi Bilmen: „So ist der Konsens der Gelehrten in einer Angelegenheit ein Beweis für deren religionsgestzliche Richtigkeit“ (Feinheiten Islamischen Glaubens, S. 49).

Der türkische Gelehrte Ahmet Davudoglu (gest. 1983) verbreitete in seinen Schriften die Ansicht, dass vor allem jene, die keiner sunnitischen Rechtschule angehören, die größte Bedrohung und Fitna (Rebellion) für die Muslime darstellen würden (siehe hierzu: Din Tahripcileri, S. 14-21, Ahmed Davudoglu). In einer Publikation, dass besonders unter den türkischsprachigen Muslimen weit verbreitet ist, heißt es: „Diejenigen, die sich von den Lehren der vier sunnitischen Rechtsschulen abweichen, haben den Islam als solchen verlassen. Denn dies hätten die sunnitischen Gelehrten in einem Konsens so entschieden“ (Faideli Bilgiler, S. 170, Ahmed Cevdet Pasa, 28 Auflage 2001).

In den Moscheen fällt die Handhabung der Gebetspraxis unterschiedlich aus,  wie z.B. die Orientierung der Praxis in den marokkanischen Moscheen nach der malikitischen Lehre und üblicherweise in den türkischen nach der hanafitischen. Auch hat sich die Grundeinstellung bei vielen erkennbar durchgesetzt, dass hauptsächlich ihre Rechtsschule am nahsten an den Lehren (Sunna) des Propheten Muhammad (s) sei. Deshalb kommt es für diese nicht in Frage, hinter einem Imam in einer Moschee zu beten, der eine andere Rechtsschule befolgt. Professor Muhammed Hamidullah (gest. 2002) beschreibt diesen Umstand mit einer Anmerkung dazu folgendermaßen: „Wenn z. B. ein Schafi´it sich weigert, einem hanafitischen Imam im Gebet zu folgen, würde das eigentlich bedeuten, dass dieser Schafi´it sich weigern würde, dem Propheten selbst zu folgen, wenn dieser eine Gebetshaltung einnimmt, die der schafi´itischen Schule nicht bekannt ist. Wie entsetzlich! (Der Islam, S. 300, Veröffentlichung der türkischen Religionsstiftung 1997).

Eine blinde Nachahmung (Taqlid) einer Rechtsschule würde konsequenterweise auch dazu führen, den Abfall vom Islam durch das Töten zu befürworten (siehe hier besonders zum Abfall des Islam: https://antikezukunft.de/2012/10/31/wird-der-abfall-vom-islam-mit-dem-tode-bestraft/). Denn alle Rechtsschulen haben hierzu einen Konsens getroffen: „So sind sich die Gelehrten der verschiedenen Rechtsschulen des Islams darüber einig, dass der Abfall vom Glauben mit der Hinrichtung des Renegaten geahndet werden muss, denn die Apostasie gilt als Auflehnung gegen Gott und als Aufkündigung der Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinschaft und damit als eine direkte Gefährdung dieser Gemeinschaft in ihrem Bestand“(Islam-Lexikon, S. 18, Khoury/Hagemann/Heine. Siehe aber auch: Der verfälschte Islam, S. 95, Yasar Nuri Öztürk).

Die Muslime werden in den islamischen-Katechismen (türk. Ilmihal) nachdrücklich davor gewarnt, den Weg der vier sunnitischen Rechtsschulen unter keinen Umständen zu verlassen, geschweige denn, ihre Lehren in Frage zu stellen: „Falls jemand entgegen der allgemeinen Meinung eines Rechtsgelehrten seine eigene Meinung als Maßstab nimmt und diesen Weg einschlägt, so entfernt dieser sich aus der heiligen Religion und nähert sich der Entstellung. Einen derart dunklen Weg haben manche alte Gemeinden eingeschlagen. Um ein solches Irregehen zu vermeiden, haben Muslime der Vergangenheit sich immer zu einer Rechtsschule bekannt und einen der vier Imame zum geistigen Vorbild gewählt“ (Feinheiten islamischen Glaubens, islamischer Katechismus, S. 52, Astec Verlag).

Da nicht jeder Gläubiger die Zeit für eine intensivere Beschäftigung mit den Primärquellen des Islam (Koran und Hadithe) aufbringen kann, so sei es erst dann in Ordnung, wenn dieser eine Rechtsschule folgt. Nach Ahmad Reidegeld wird es jedoch nicht möglich sein, dass alle Gläubigen umfangreiches Wissen über ihre Religion erlangen werden, deshalb sei eine Nachahmung (taqlid) einer Rechtsschule unausweichlich: „Als die Meinungen zunahmen, bildeten sich die Madhahib: sie waren Methoden, nicht aber Selbstzweck. Für die einfachen Menschen war es nicht möglich, genug Wissen zu sammeln, und der Taqlid (Nachahmung) wurde-schon aufgrund der mangelnden Bildungsmöglichkeit-praktisch unausweichlich(Handbuch Islam, S. 117).

Wie ist es jedoch handzuhaben, wenn die Rechtsbestimmungen jener Rechtsschulen dem Koran offensichtlich widersprechen? Der Koran betont ausdrücklich, dass alle Arten von Wassergetier ohne Einschränkung erlaubt zum Speisen ist: „Der Fang aus dem Meer und sein Genuss sind euch – als Versorgung für euch und für die Reisenden – erlaubt(Koran 5:96).

Die hanafitische Rechtsschule wendet dagegen ein, dass nicht alles aus dem Meer erlaubt ist und begründen ihre Haltung folgendermaßen:  ” Von den Seetieren kann man alle Sorten von Fischen verzehren. Steinbutte, Karpfen, Schlangen und Delfine sind erlaubt, aber andere Seetiere sind abscheulich und deshalb zu vermeiden: Krabben, Krebse, Muscheln, Hummer etc. Auch andere Seetiere wie Seepferde oder Seeschweine, die keine Fische sind, sind nicht zu verzehren und deshalb auch nicht zu jagen” (Ömer Nasuhi Bilmen – Feinheiten islamischen Glaubens, S. 366. Siehe mehr zum Thema „Wassergetier“ http://tavhid.de/?p=1394).

Für den Großmufti von Ägypten Muhammed Abduh (gest. 1905), war die blinde Nachahmung der eigentliche Hauptgrund für verschiedene Spaltungen und Zwietracht innerhalb der muslimischen Gruppen gewesen. Auch betont er, dass selbst Urteile der Rechtsgelehrten für verbindlich deklariert wurden, obwohl diese Rechtsentscheidungen dem Koran und der Sunna offensichtlich widersprechen würden (siehe hierzu: Tefsiru´l-Kur´ani´l-Hakim, Bd. 7, S. 316, türk. Ausgabe).

Die so genannte as-Salafiya Bewegung hat sich den Rechtsschulen als diametrale Richtung entwickelt. Ihre Hauptforderung ist die völlige Abschaffung aller Rechtsschulen und ausschließlich zu den Grundquellen des Islam (Koran und Sunna) zurückzukehren. Deshalb müsse man: „ohne die Meinungen der früheren Gelehrten zu beachten- direkt zu den Quellen zurück, ohne auf die Wege der Madhahib (Rechtsschulen) zurückzugreifen“ (siehe hierzu: Handbuch Islam, S. 116, Ahmad A. Reidegeld). Als Beleg für ihr Anliegen wird der Koranvers: 4:59 aufgeführt: „O ihr, die ihr glaubt, gehorcht Gott und gehorcht dem Gesandten und denen, die unter euch Befehlsgewalt besitzen. Und wenn ihr über etwas streitet, so bringt es vor Gott (also dem Koran) und den Gesandten (der Sunna), wenn ihr an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag. Das ist das Beste und nimmt am ehesten einen guten Ausgang“.

Auf die Frage, ob ein Eintreten in eine Rechtsschule Pflicht wäre und wie vor allem mit den unterschiedlichsten Rechtsbestimmungen umzugehen sei, antwortete der ehemalige Vorsitzender der Deutschen Muslim-Liga Abdullah Leonhard Borek: „Es gibt keine Verpflichtung, einer bestimmten (Rechts-)Schule (Madhab) oder einem bestimmten Gelehrten zu folgen. (…) Man muss versuchen, die Begründung jeder einzelnen Lehrmeinung zu verstehen, um sich dann dafür zu entscheiden, wofür es die gesichertere Beweislage gibt. Ist man dazu allerdings nicht in der Lage, weil man nicht über genügend islamischen Wissen verfügt, muss man sich darauf verlassen, dass ein Gelehrter, dem man vertraut, die richtige Lehrmeinung vertritt“ (Islam im Alltag, S. 158).

Von dem Begünder der malikitischen Rechtsschule Malik ibn Anas (gest. 795) wird berichtet, dass dieser sagte: „Ich bin auch nur ein Mensch, der auch Fehler begeht. Schaut nach meiner Sichtweise. Wenn es dem Koran und der Sunna entspricht, das nehmet ihr. Wenn es aber dem nicht entsprechen sollte, so nehmet es nicht (Sevkani, Irsadu´l –Fuhul ila Tahkik´l-hakki mine´l-Usul. Zitiert aus: Tefsiru´l Menar, Bd. 7, S. 316, türk. Ausgabe).

Auch heute werden Muslime ohne eine Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule des Unglaubens beschuldigt. Da könnte man aber auch die Frage stellen, zu welcher Rechtsschule der Prophet Muhammad (s) oder die rechtgeleiteten Kalifen (Abu Bakr, Omar, Uthman und Ali) wohl angehörten?

 

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

6 Kommentare

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  • Hmmm…die Frage erinnert mich an die Koranstelle mit Abraham, wo die Juden u Christen auffordern „werdet Juden bzw Christen, auf dass ihr rechtgeleitet seiet“, während man doch lediglich dem Glauben Abrahams an den einigen Gott folgen solle… wie kann es verpflichtend sein,wenn es zum Zeitpunkt der Koranoffenbarung noch gar keine Rechtsschulen gab? Waren ihre Gründer etwa Propheten oder gar unfehlbar?

  • Endlich mal ein Artikel mit größtenteils sinnvollem Inhalt…nur finde ich persönlich, dass die Salafisten in dem Artikel falsch dargestellt werden… Die vielen sehr negativen Aspekte der Salafiya Bewegung werden ausser acht gelassen, was ich nicht gut finde und es wird der Anschein erweckt, wenn man dem Gedanken des Artikels folgt auch mit den Ideologien der Salafisten konform sei… Was absolut ganz und gar nicht so sein muss!

  • Ich hoffe das dieser Artikel von vielen Rechtschul-Fanatikern gelesen wird. Tatsächlich finde ich die Anregung von Zeynep Iqbal wichtig… Ach ja, dann würde ich vielleicht noch kurz das Bild oben erläutern. Viele wissen wahrscheinlich nicht, warum damals um die Kaaba die Gebäude aufgebaut waren. Sonst toller Artikel!

  • Selam mellymell,

    Du hast es richtig erkannt. Die Gebäuden um die Kaaba waren für die Rechtsschulen errichtet, so dass jeder die Rituale nach seinem Madhab (Rechtsschule) praktizieren konnte.

  • mich ärgert es, wenn Rechtsschulen oder Imame verständliche Koranverse einengen, wie z.B.

    „Der Fang aus dem Meer und sein Genuss sind euch – als Versorgung für euch und für die Reisenden – erlaubt“ (Koran 5:96)

    also, demnach sind für mich alles aus dem Meer sind eßbar, ohne zu relativieren…

    aber hanafitische Rechtsschule relativiert etwas, was im Koran doch nicht steht, oder?
    – ” Von den Seetieren kann man alle Sorten von Fischen verzehren. Steinbutte, Karpfen, Schlangen und Delfine sind erlaubt, aber andere Seetiere sind abscheulich und deshalb zu vermeiden: Krabben, Krebse, Muscheln, Hummer etc. Auch andere Seetiere wie Seepferde oder Seeschweine, die keine Fische sind, sind nicht zu verzehren und deshalb auch nicht zu jagen”

  • Slm sehr guter Artikel !

    Die Quellenvielfalt beeindruckt wieder stark!

    hier noch als Ergaenzung:

    3:103:(!)Und haltet alle fest am Seil Allahs und geht nicht auseinander! (!) (Bubenheim)

    İnwieweit würde das die Rechtsschulen betreffen, wenn nicht doch aber die verschiedenen Strömungen im İslam?

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