Der Islam und die zeitgenössische Erneuerung

Für viele Islamkritiker ist das Urteil von Anfang an evident, weshalb die muslimischen Länder im Vergleich zu westlichen Staaten sowohl rechtsstaatlich, als auch ökonomisch unterentwickelt sind. Der Grund sei ausschließlich durch den Einfluss der Religion des Islam zu ergründen. Allein schon die Präsenz der in Europa lebenden Muslime, stellen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit zum Islam, eine enorme Gefahr dar. Der populistische Islamkritker Thilo Sarrazin, warnt deshalb panisch von der vermeintlichen Muslimischen Gefahr wie folgt: „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten auf lange Sicht eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“.1

Muslimische Denker konstatieren vehement entgegen solcher Vorwürfe und begründen eine Reihe von tiefer gehenden Analysen und komplexeren Zusammenhänge für die Rückschrittlichkeit der Gesellschaften. Hiernach ist für die Rückschrittlichkeit in den sogenannten islamischen Ländern nicht primär der Islam verantwortlich, sondern der Grund sei im Gegenteil in der nicht Befolgung seiner dynamischen und kreativen Prinzipien, wie sie explizit vom Koran gefordert werden.2

Seit geraumer Zeit wird in unzähligen Publikationen darüber spekuliert, welche kausalen und trivialen Gründe für den gestalterischen Stillstand in den muslimischen Ländern geführt habe. Nach Prof. Mohammed Arkoun (gest. 2010), begann es bereits im 10. Jahrhundert mit dem Stillstand, indem das intellektuelle Bemühen „Idschtihad“ im nach hinein vom „taqlit“ (blinde Nachahmung) verdrängt wurde. Von nun an waren die damaligen Rechtsgelehrten nicht mehr darum bemüht, auf neue gegenwärtige Probleme unter Anwendung des Idschtihad zu urteilen. Man begnügte sich hauptsächlich nur noch mit der Nachahmung der Rechtsurteile der jeweiligen bestehenden Rechtsschulen.3

Der ehemalige Dekan der theologischen Fakultät von Istanbul Prof. Yasar Nuri Öztürk, umreißt expliziter als Arkoun die destruktive Funktion der Rechtsschulen in Bezug auf die Fortschrittlichkeit. Hiernach begann der unmittelbare Stillstand erst zu jenem Zeitpunkt, als die Anhänger der diversen Rechtsschulen die Lehrmeinungen ihrer Vertreter als unantastbar sakralisierten, ja diese sogar zu Halbgöttern deklarierten: „Man hat die Obergeistlichen der verschiedenen Bekenntnisschulen vergötzt, sie zu Halbgöttern gemacht, denen in religiösen Angelegenheiten das letzte Wort zustand, und verhinderte damit, den Koran den Bedingungen von Ort und Zeit entsprechend neu auszulegen“.4

Außerdem waren die literalistischen Fundamentalisten der Ansicht gewesen, dass der Koran selbst jedwede Erneuerungen in der Religion mit den folgenden zwei Koranversen unmissverständlich ausgeschlossen habe: „Heute habe Ich eure Religion vollendet und Meine Gnade an euch erfüllt“ und: „Nichts haben Wir in dem Buch übergangen“.5 Desweiteren soll der Prophet in einer Überlieferung darauf aufmerksam gemacht haben, dass jede Erneuerung in der Religion einem Irregehen gleich zu kommen hat: „Hütet euch vor den neuen Dingen; denn jedes neue Ding ist eine Neuerung, und jede Neuerung ein Irregehen“.6 Was jedoch die literalistischen Fundamentalisten bedauerlicherweise in diesem Zusammenhang übersehen haben ist, dass die oben zitierten Koranverse nur auf „religiösem Gebiet, nämlich Glauben (aqida), Gottesdienst (ibada) und Sittlichkeit (akhlaq) im Koran seine Vollendung gefunden haben“.7

Aus diesem Anlass versicherte Prof. Hassan Ben Saddik (Tanger) in seinem Vortrag in der Anwesenheit des marokkanischen Königs Hassan II., dass sich die abwertende Erneuerung (arab. bida) keinesfalls auf technologischen Neuerungen beziehe. Dr. Murad Wilfried Hofmann stellt deshalb richtig fest: „Im Laufe des Mittelalters wurde „bida“ so zu einer begrifflichen Waffe gegen den Fortschritt“.8

Weitere wichtige Ursachen für die Stagnation und Untergang der islamischen Welt, können unter anderem wie folgt aufgelistet werden:

  • Im 13. Jahrhundert wurde der Islam und entsprechend seine Infrastruktur von Seiten der christlichen und mongolischen Welt, fast zur gleichen Zeit militärisch von Grund und Boden zerstört. Die damaligen fortschrittlichen Geisteskulturen sowohl in Cordoba (1236) als auch in Bagdad (1258), wurden ausnahmslos zu Grunde gerichtet. Bis heute hat die islamische Welt, sich nicht wirklich von diesem Schicksal erholen können.
  • Im 14. Jahrhundert setzte sich allmählich das Dogma durch, wonach ab sofort keine neuen Rechtsurteilen mehr auf der Grundlage des Idschtihat (die Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung) getroffen werden durften. Die Rechtsgelehrten beschlossen überwiegend und nachhaltig in dieser Zeit, dass von nun an nur noch Rechtsurteile und Lehrmeinungen der Altvorderen (Salaf) konsultiert und ausschließlich nur noch damit zu hantieren sei. Somit wurde „Taqlid“ (blinde Nachahmung) zu obersten Maxime in den islamischen Ländern deklariert und die entsprechende „Türe zur Auslegung“ geschlossen.9
  • Der Einfluss des asketischen Sufismus, stellte eines der entschiedensten Hindernisse für die positive Entwicklung des Islam diametral im Wege. Denn der spätere Sufismus lenkte verstärkt das Augenmerk ausschließlich auf die geistigen Übungen des Individuums und indoktrinierte die Massen der Gläubigen darüber hinaus noch dazu, ihre Achtsamkeit ausschließlich auf das Jenseits zu richten. Insofern wurden die organisatorisch weltlichen Angelegenheiten, durchweg als sekundäre Bestrebungen gebrandmarkt und führten somit zur geistlichen Trägheit und Lethargie.10

Was ist Idschtihad und warum ist ihre Anwendung von grundlegender Bedeutung?

Die islamischen Quellen tradieren, dass der Prophet des Islam selbst die Methode des Idschtihad autorisiert habe. Dies geht zunächst aus sämtlichen Überlieferungen hervor, wie sie beispielsweise in Abu Dawuds (gest. 888) Hadith-Kompendium folgendermaßen sinngemäß überliefert wird: „Als Muhammad seinen Gefährten Muadh ibn Jabal als Gouverneur in den Jemen entsandte, frage er ihn, wonach er wohl Urteil sprechen würde? Muadh antwortete, dass er nach dem Koran richten werde und, falls er zu einem Punkt dort nichts finde, nach der Sunna des Propheten. Auf Muhammads Frage, wie er denn vorgehen wolle, wenn er weder im Koran noch in der Sunna fündig werde, antwortete Muadh: „Dann werde ich mein Bestes geben, um mir eine eigene Meinung zu bilden, und dabei keine Anstrengung scheuen“. Diese Antwort gefiel dem Propheten sehr“.11

Ein grundlegendes Prinzip und Bedürfnis für die Anwendung des Idschtihad, ist hauptsächlich aus dem Zweck geboren, weil neue auftretende Probleme nicht explizit im Koran und Sunna aufzufinden waren. Neben dem bedeutenden österreichischen Islam-Gelehrten Muhammad Asad (gest. 1992)12, forderte der bereits schon oben erwähnte deutsche Muslim Dr. Murad Wilfried Hofmann im deutschsprachigen Raum, wie kein anderer zuvor die bedingungslose Einführung des Idschtihad auf der Grundlage der autoritativen Quellen. Hofmann drückt die Notwendigkeit eines zeitgenössischen Idschtihad folgendermaßen aus: „Weder Koran noch Sunna noch das mittelalterliche Fiqh äußerten sich unmittelbar zur Ressourcennutzung im Weltraum, zu Urheberrecht im Internet, zu Verkehrsregeln auf der Skipiste, zu Leihmutterschaft, zu Gentechnologie, zu In-vitro Befruchtung und ähnlichem. Aber so, wie mittelalterliche Juristen vorgingen, müssen auch moderne islamische Juristen (fuqaha) vorgehen: indem sie neue Rechtsregelungen unter Heranziehung der Prinzipien und Ziele des Korans und der Sunna analogisch entwickeln“.13

Die muslimischen Kritiker einer solchen juristischen Vorgehensweise erheben jedoch den Vorwurf, dass die Methodologie des Idschtihads, zum größtenteils in Zeiten der Apologetik und deshalb erst in der Phase eines defensiven Blickwinkels betrieben wurde. Die äußeren Umstände und der technologische Rückschritt im Angesicht zum Westen, soll gewisse Würdenträger ganz besonders im 19. Jahrhundert wie Djamaladdin al-Afghani (gest.1897) und dessen Mitstreiter Muhammad Abduh (gest. 1905) dazu bewogen haben, von der juristischen Methode des Idschtihads reichlich Gebrauch zu machen.14 Am 29. März 1883 hielt Prof. Ernest Renan einen Vortrag an der Sorbonne, der dann später unter dem Titel „Der Islam und die Wissenschaft“ veröffentlicht wurde. Renan warf der Religion des „Islam“ unverhohlen vor, die muslimische Welt an den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritten zu verhindern: „Jeder, der im Orient und in Afrika war, wird beeindruckt sein von diesem eisernen Ring, der den Kopf des Gläubigen umschließt, ihm den Zugang zur Wissenschaft vollkommen verwehrt und ihn unfähig macht, sich Neuem zu öffnen“.15 Dies soll den unwiderruflichen Anfang der apologetischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert markiert haben. Unmittelbar danach nutzten al-Afghani und Abduh ausnahmslos alle möglichen Plattformen, um in Form von Vorträgen an Hochschulen die These von Renan sowohl theologisch als auch wissenschaftlich zu widerlegen. Daraufhin gaben die beiden eine kurze Zeit später auch gemeinsam eine Zeitschrift mit dem Namen „al-Urwa al-wutqa“ (das festeste Band, Koran 2,256)16 heraus, um dadurch ihre Ansichten und das Abbauen von Vorurteilen über den Islam, einem größeren interessierten Publikum im Westen zugänglich zu machen.17

Für Muhammad Abduh bestand kein Zweifel daran, dass die Missstände und die Unterentwicklung nicht an die Religion des Koran fest zu machen war. Vielmehr sei die Vernachlässigung durch die Koranischen Prinzipien und die blinde Nachahmung (taqlid) der Gelehrten, die eigentliche Ursache für dessen Niedergang gewesen.18 Aus diesem Grund, sah Abduh keinen anderen Ausweg mehr, als alle überlieferten religiösen Lehrmeinungen einer kritischen Überprüfung durch den Sieb des Koran zu unterziehen. Nach Abduh soll der Koran selbst an unzähligen Stellen auf diesen Vorgang hingewiesen haben, wie z. B: „Wenn man ihnen sagt: „Folgt Gottes Offenbarung!“ so sagen sie: „Wir folgen den Überlieferungen, die von unseren Vätern auf uns gekommen sind. “ Das tun sie, obwohl sich ihre Väter ihres Verstandes nicht bedienten und ihnen die Rechtleitung fehlte“.19

Es wäre ein Trugschluss zu glauben, als würde sich dieser und ähnliche Verse nur auf den historischen-Kontext beziehen. Da der Koran als abschließende Offenbarung für alle Zeiten bestimmt ist, besteht eben die zeitgenössische Herausforderung eigentlich darin, die intendierte Botschaft durch Reflexion und Selbstkritik, für die Gegenwart relevant zu machen.20 Im folgenden Koranvers wird dieser Umstand wie folgt beschrieben: Für jede Generation sendet Gott das Buch herab, das ihr entspricht“.21

Die Hauptintention der „Islah“ Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, war in erster Linie dazu konzipiert, die mittelalterlichen Zusätze und Auswüchse in der Religion (Hurafa) und der Gesellschaft zu bekämpfen. Nur durch diese Herangehensweise wäre es nur möglich, wieder zu der ursprünglichen Lehre zurück zukehren.22

Deshalb war es auch kein Zufall, dass der indisch-pakistanische Dichter Muhammad Iqbal (gest. 1938) den Titel für sein Buch „Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“ auserwählte. Iqbal war der festen Überzeugung gewesen, im Koran die Intention und das Prinzip der Bewegung für einen zeitgenössischen Idschtihad (sich anstrengen, bemühen) gefunden zu haben. Als Belegstelle wurde der folgende Koranvers von ihm aufgeführt: „Diejenigen aber, die sich um unseretwillen abmühen, werden wir unsere Wege führen“.23

Zur etwa selben Zeit wie Iqbal, bekräftigte der kurdische geistliche Said Nursi (1876-1960) die absolute Notwendigkeit eines neuen Islamverständnisses: „Die alten Verhältnisse sind nicht mehr gültig; entweder kommen neue Verhältnisse oder ein erbärmliches Verschwinden“.24

Es war kein anderer als der Prophet selbst, der seiner Umma (Gemeinschaft) folgendes versicherte: „Wahrlich, Gott sendet für die Umma zu Beginn jedes Jahrhunderts einen, der den Glauben für sie erneuert (yudschaddidu)“.25

Es scheint bei den Rechtsgelehrten einen Konsens darüber zu geben, dass es im Hinblick auf die Religionserneuerung -und damit auch die Anwendung des Idschtihads-, die Prinzipien und Grundsätze des Islam unangetastet bleiben. Vielmehr soll die Prophezeiung des Propheten, eine Veränderung hinsichtlich des Verständnisses und der praktischen Umsetzung der Schriftquellen herbeiführen. Der Schweizer Islamwissenschaftler Prof. Tariq Ramadan bringt dies wie folgt zum Ausdruck: „Die heiligen Schriftquellen (Koran und Sunna) sind weiterhin maßgeblich, und die Grundlagen des Glaubens und der Ausübung bleiben wie sie sind, aber unsere Interpretation und unser Verständnis der Texte werden mithilfe dieser Gelehrten und Denker erneuert“.26

In diesem Sinne gilt der zweite Kalif Umar ibn al-Chattb (gest.644), als der wichtigste und der bedeutendste Erneuerer des Islam. Umar soll insgesamt in 45 Punkten eine grundlegende Erneuerung in der Religion eingeführt haben.27

Das Bemerkenswerteste an seiner grundsätzlichen Erneuerung ist vor allem, dass er in diversen Angelegenheiten auch Entscheidungen, entgegen eines offensichtlichen Gebotes im Koran angeordnet habe. In der Sure 9 Vers 60 heißt es:

Die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen und für die mit ihrer Verwaltung Beauftragten und für die, deren Herzen versöhnt werden sollen, für die (Befreiung von) Sklaven und für die Schuldner, für die Sache Gottes und für den Wanderer: eine Vorschrift von Gott“.

In diesem Koranvers werden verschiedene Einzelheiten aufgezählt, die die Kriterien zur Erhaltung von Almosen berechtigt werden. Zu dem Vers: „deren Herzen versöhnt werden sollen“ (al-mu´allafatu qulubuhum) wird allgemein berichtet, dass es sich hierbei um nichtmuslimische Persönlichkeiten und Gruppen mit hohem Ansehen gehandelt habe, um sie durch die Almosen zur Sympathie zum Islam zu bewegen und um jegliche Antipathie zu unterbinden. Der Prophet und der erste Kalif Abu Bakr (gest. 634) setzten dieses Gebot in die Praxis um.28 Als Umar später zum Kalifen ernannt wurde, zögerte er nicht, dieses Gebot außer Kraft zu setzten. Die historischen Quellen überliefern ausgiebig darüber, wonach sich viele Gefährten gegen Umars neue Fatwa (Rechtsurteil) in Bezug auf die Annullierung des Koranverses auflehnten. Unbeeindruckt von dem, entgegnete Umar: „Wer will soll Glauben und wer nicht will, soll dann eben nicht glauben. Und zitierte daraufhin den Koranvers: „Sprich: „Das ist die Wahrheit von eurem Herrn. Wer glauben will, möge glauben, und wer ablehnen will, möge ablehnen“.29 Und beendete die Diskussion mit dem folgenden Satz: „Ab heute gibt es keinen mehr, dessen Herz für den Islam gewonnen werden soll“.30

Das Beispiel von Umar demonstriert zweifelsohne die Flexibilität der Scharia, insbesondere unter Berücksichtigung der verändernden gesellschaftlichen Strukturen. Dabei ist es nicht zu übersehen, wenn ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel die Rechtsgelehrten auch zu Entscheidungen bewegen kann, die ein grundsätzliches Gebot und dessen Wortlaut im Koran nicht entsprechen.

Was sind die größten Hindernisse für eine Erneuerung?

Hierzu können im Grunde genommen folgende drei Überschriften angeführt werden:

  • Verfälschte Hadithe: Denn diese stellen ein nicht zu verkennendes Hindernis im Hinblick auf die Erneuerung (Ihya) des Religionsverständnisses dar. Sie lenkt von der eigentlichen Beschäftigung mit dem Koran ausgesprochen ab.
  • Mystik und Sufi Orden (Tariqa): Ein wesentlicher Bestandteil der Mystischen Unterweisung ist, seine Anhänger weder selbst denken zu lassen, noch sie zu einer kritischen Selbstreflexion zu animieren. Nach dem Motto, dass das Wissen eine unabdingbare Gefahr für den Sufi darstellt und diese in die Irre führen kann. Selbst der bekannteste Protagonist in diesem Spektrum- der Satan (Iblis)- soll aufgrund seines viel Wissens in die Irre gegangen sein.31
  • Die blinde Nachahmung des Fiqh (Rechtsurteile): Hierbei ist besonders der Einfluss der Rechtsschulen nicht zu übersehen. Die historisch gewachsenen Fiqh-Werke werden in der Wichtigkeitsskala nahezu mit dem Koran gleichgesetzt und als nicht veränderbar wahrgenommen. Deshalb wird ein starres Festhalten daran, unter allen Umständen als bedingungslos vorausgesetzt.32

Der bekannteste zeitgenössische Sufi Akademiker und Islamwissenschaftler der George Washington University Prof. Seyyed Hossein Nasr, hält die Einführung und den Gebrauch vom Idschtihad, als ein essenzielles Zeichen der Glaubensschwäche. Außerdem beschuldigt Nasr die Juristen hauptsächlich damit, mit dem betreiben von Idschtihad, sich nur an die Moderne anpassen zu wollen. Deshalb plädiert er in aller Deutlichkeit, dass die Moderne sich im Gegenteil unter allen Bedingungen an die Scharia33 zu orientieren habe: „Einige Modernisten haben in den letzten hundert Jahren versucht, die Scharia zu ändern, das Tor des Idschtihad wieder zu öffnen, um moderne Praktiken in das Gesetz einzuführen und die Funktion der Scharia auf das persönliche Leben zu beschränken. Alle diese Aktivitäten haben ihre Wurzeln in einer bestimmten Haltung spiritueller Schwäche gegenüber der Welt und in einer Unterwerfung unter die Welt […] Sie erkennen nicht, dass die Gesellschaft nach der Scharia geformt werden muss, nicht umgekehrt“.34

In seiner eindrucksvollen Autobiografie, beschreibt Muhammad Asad seine Begegnung in Ägypten mit dem Sheikh der al-Azhar-Universität Mustafa al-Maraghi (gest. 1945). Als die beiden an eine Moscheehalle vorbei gingen und an einer theologischen Vorlesung lauschten, wendete sich al-Maraghi mit dem folgenden Satz an Asad: „Siehst du diese Gelehrten dort drüben? Sie sind wie jene heiligen Kühe in Indien, die, wie man mir sagte, alles beschriebene und bedruckte Papier auffressen, das sie auf der Straße finden… Ja, so ist´s: die hier verschlingen die Seiten von Büchern, die vor Jahrhunderten geschrieben worden sind, ohne sie zu verdauen. Sie können nicht mehr selbständig denken; sie lesen nur und wiederholen, lesen und wiederholen – und die Studenten, die ihnen zuhören, lernen nur lesen und wiederholen, ein Geschlecht nach dem anderen“.35

Al- Maraghi´s Feststellung führte Asad scharfsinnig vor Augen, in welcher prekären Lage sich das Bildungssystem, selbst in der historisch bedeutendsten theologischen Fakultät der muslimischen Welt befindet. Ohne eine grundlegende Reform im Bildungsbereich, wird es nicht möglich sein, eine kritisch selbstreflektierende Generation hervorzubringen. Dazu gehört vor allem, kritisch die Beschlüsse der Rechtsschulen zu hinterfragen und einschließlich dessen historisch gewachsene Lehrmeinungen und Fatwas, im Lichte der Gesamtheit der Quellen nochmals stringent auszuwerten.36

Das eigentliche Zerwürfnis zwischen den Gelehrten al-Afghani und Muhammad Abduh, soll die Diskrepanz über die Methodenlehre und das Thema im Bildungswesen betroffen haben. Denn Abduh ist der festen Überzeugung gewesen, nur dann eine grundlegende Erneuerung (Islah) erfolgreich im Verständnis der Muslime herbei zu führen, wenn das Bildungswesen in Ägypten einschließlich der Azhar-Universität entschieden reformiert würde.

Wenn dies in seiner ganzen Tragweite wie in der Frühzeit des Islam wieder umgesetzt werden sollte37, so wäre die nachstehende Prognose sicherlich keine Übertreibung, dass der Islam als Lebensweise in absehbarer Zeit, auch als eine ernsthafte Alternative zur westlichen Konsum Gesellschaft wahrgenommen wird.38

1 Deutschland schafft sich ab, S. 267, DVA 2010.

2 Siehe hierzu den Aufsatz von Benjamin Idriz: Perspektiven aus Deutschland- Überlegungen zur Zukunft der Muslime in Europa, S. 205-206. Veröffentlicht in: Islam mit europäischem Gesicht: Perspektiven und Impulse, Verlag Butzon & Becker, 1. Auflage 2010.

3 Vgl. Mohammed Arkoun, Der islam- Annäherungen an eine Religion, S. 148, Palmyra Verlag 1999.

4 Zitiert aus: Der verfälschte Islam, S. 140. Grupello Verlag, 1. Auflage 2007.

5 Siehe Koran 5:3 und 6:38.

6 Sahih Muslim, ahadith Nr. 6466-6470. Siehe hierzu die Fußnote 9 in: Der Islam als Alternative, S. 65, Murad Wilfried Hofmann, 6. Auflage Cagri Yayinlari Istanbul 2010.

7 Vgl. Murad Wilfried Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend, S. 119, 3. Auflage Cagri Yayinlari Istanbul 2010.

8 Vgl. Der Islam als Alternative, S. 57, 6. Auflage Cagri Yayinlari Istanbul 2010.

9 Siehe zum Thema umfangreich: Murad Wilfried Hofmann, Der Islam als Alternative, S. 19-26, Cagri Yayinlari Istanbul 2010, 6. Auflage.

10 Siehe hierzu besonders: Muhammad Iqbal, Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 178-179, Schiler Verlag, 3. Auflage 2010.

11 Abu Dawud, Sunan, Hadith Nr. 3585. Siehe zu ähnlichen Überlieferungen zum idschtihad: Hayreddin Karaman, Islam Hukuk Tarihi (Geschichte der islamischen Rechtslehre), S. 107-115, 8.Auflage, Istanbul 2011.IZ Yayincilik.

12 Vgl. Muhammad Asad, Die Prinzipien von Staat und Regierung, S. 46-50, 1. Auflage Edition Bukhara 2011.

13 Der Islam im 3. Jahrtausend- Eine Religion im Aufbruch, S. 217, 3. Auflage Cagri Yayinlari Istanbul 2010.

14 Siehe hierzu besonders: Mustafa Öztürk, Kuran, Tefsir ve Usul (dt. Koran, Tafsir und Methode), S. 31-32, Ankara Yayinlari.

15 Zitiert aus: Alber Hourani, Der Islam im Europäischen Denken, S. 45, S.Fischer Verlag 1994.

16 Vgl. Andreas Meier, Politische Strömungen im modernen Islam, S. 46, Peter Hammer Verlag Sonderdruck 1995.

17 Siehe zu den einzelnen Schwerpunkten in der Zeitschrift und zur Person von Afghani besonders den Beitrag von Tacettin Simsek: http://www.islamisohbet.net/haber-268-Cemaleddin-Afgani-1838-1897.html (zuletzt abgerufen am 20.06.15).

18 Vgl. Alexander Flores, Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext, S. 120-121, Verlag der Weltreligionen, 1. Auflage 2011.

19 Koran 2:170.

20 Siehe hierzu besonders: Roger Garaudy, Scharia, S. 15, erstellt und herausgegeben vom Deutsch-Islamischen Institut.

21 Koran 13:38.

22 Vgl. Weltmacht Islam, S. 263, Bayerische Landeszentrale für politische Bildung, 1. Auflage München 1988.

23 Koranübersetzung nach Rudi Paret, Sure 29 Vers 69. Siehe: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 176, Schiler Verlag, 3. Auflage 2010.

24 Zitiert aus: Perspektiven aus Deutschland-Überlegungen zur Zukunft der Muslime in Europa, S. 208, Beitrag von Benjamin Idriz.

25 Überliefert bei Abu Dawud.

26 Radikale Reform, S. 20-21, Diederichs Verlag 2009. Siehe umfangreicher vom Autor sein Werk: Muslimsein in Europa-Untersuchungen der Islamischen Quellen im europäischen Kontext, S. 113-121, MSV Verlag, Köln 2001.

27 Siehe zu den Einzelheiten und der Auflistung der 45 Punkten: Ihsan Eliacik, Islam´in Yenilikcileri (Die Erneuerer des Islam) Bd. 1, S. 61-63, insa Yayinlari, Februar 2011..

28 Siehe hierzu für die Kriterien zur Abgabe von Almosen: Muhammad Hamidullah, Der Islam- Geschichte, Religion und Kultur, S. 192-196, Türkiye Diyanet Vakfi, 2. Auflage, Ankara 1997.

29 Koran 18:29.

30 Zitiert aus Tabari, Bd. 4, S. 313, Hisar Yayinevi, Istanbul 2012.

31 Ein Samstags Besuch zum Sufi-Konvent der Nakschibandiya in Castrop-Rauxel, würde genügen um das zu beobachten.

32 Vgl. Hüseyin Atay, Dinde Reform (dt. Reform in der Religion), S. 25-26, Veröffentlicht in AÜIFD 2002.

33 Siehe zur Scharia eine andere Sichtweise von: Ilhami Güler, Sabit Din Dinamik Seriat (dt.Die Beständigkeit der Religion und die Dynamik der Scharia), S. 23-40, Ankara Okulu, 3. Auflage 2012.

34 Ideal und Wirklichkeit des Islam, S. 144, Diederichs Gelbe Reihe, München 1993.

35 Zitiert aus: Der Weg nach Mekka, S. 230-231, Patmos Verlag, 3. Auflage 2011.

36 Vgl. Hüseyin Atay, Kur´ana Göre Arastirmalar (dt.Forschungen nach dem Koran), S. 36, Ankara 1995.

37 Siehe hier zum historischen Beispiel die Blütezeit des Islam in Andalusien. Vgl. Roger Garaudy, Endülüs´te Islam, Düsüncenin Baskenti Kurtuba, Türk Edebiyati Vakvi 2014 (orig.französischer Titel: L´Islam en Occident, Cordoue, Capitale de l´Esprit 1987.

38 Vgl. Murad Wilfried Hofmann, Der Islam als Alternative, 6. Auflage, Cagri Yayinlari 2010.

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

3 Kommentare

  • Was mich sehr im Text gewundert hat ist, dass der zweite Kalif gegen den Wortlaut des Koran entschieden hat. Es heißt, dass er insgesamt 45 Änderungen durchgeführt hat. Ich hätte beim weiten nicht gedacht, dass ausgerechnet eines der vier Rechtgeleiteten Kalifen so einen Idschtihad betreiben würde.

  • As-salamu alaikum,

    wünsche allen einen gesegneten Ramadan.
    Möge Allah unser Fasten annehmen. Amin

    Vielen Dank für diesen sehr gut geschriebenen Artikel, den muss ich gleich weiterempfehlen. 🙂

    Gruß, wa salam
    Katharina

  • Dieser Satz ist der Wichtigste in dem Aufsatz, so ist es heute noch, selbst unsere jungen, gut ausgebildete jungen Leute hören auf zu denken, wenn es um den Islam geht.
    „Siehst du diese Gelehrten dort drüben? Sie sind wie jene heiligen Kühe in Indien, die, wie man mir sagte, alles beschriebene und bedruckte Papier auffressen, das sie auf der Straße finden… Ja, so ist´s: die hier verschlingen die Seiten von Büchern, die vor Jahrhunderten geschrieben worden sind, ohne sie zu verdauen. Sie können nicht mehr selbständig denken; sie lesen nur und wiederholen, lesen und wiederholen – und die Studenten, die ihnen zuhören, lernen nur lesen und wiederholen, ein Geschlecht nach dem anderen“.
    Guter Aufsatz, vielen Dank
    Elisabeth Mariam

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