Yaşar Nuri Öztürk“Der Verstand ist nach dem Koran der größte Prophet“
Der Religionsphilosoph drängt auf eine zeitgemäße Auslegung des Korans
- Der islamische Religionsphilosoph Yasar Nuri Öztürk
Die islamischen Quellentexte zeitgemäß zu lesen und auszulegen ist in vielen islamischen Ländern keineswegs selbstverständlich. Den sich immer höher auftürmenden sozialen und politischen Verwerfungen glauben konservative muslimische Geistliche allzu oft mit Rezepten begegnen zu können, die ihren Ursprung häufig im Mittelalter haben. Doch selbst wenn Korandeutungen vor 400, 800 oder 1.200 Jahren sinnvoll waren, müssen sie das nicht notwendigerweise auch im 21. Jahrhundert sein. Diese Auffassung vertritt der islamische Religionsphilosoph Yaşar Nuri Öztürk.
Mit 29 Jahren promoviert Öztürk in islamischer Philosophie. Er lehrt ein Jahr lang am Unification Theological Seminary im US-amerikanischen Barrytown. Dann wird er an die Universität Istanbul berufen. Yaşar Nuri Öztürk ist ein erfolgreicher Autor. Rund 30 Bücher hat er bislang veröffentlicht.
Der 59-Jährige bewohnt im Istanbuler Stadtteil Çengelköy in Halbhöhenlage ein komfortables Haus mit atemberaubendem Blick auf den Bosporus. Bereits zur Zeit der Osmanen residierten noble Familien in dem Örtchen, das übersetzt etwa „Hakendorf“ bedeutet. Tatsächlich schlägt der Bosporus hier einen leichten Haken nach Norden. Von seinem mit arabischen, türkischen und englischen Büchern reich bestückten Arbeitszimmer sieht Yaşar Nuri Öztürk durch ein vier Meter breites Panoramafenster die in den 70er Jahren erbaute, 1.500 Meter lange erste Brücke über den Bosporus.
„Der Koran drängt dazu, den Verstand zu gebrauchen“
Der Verstand spielt im Leben des Yaşar Nuri Öztürk eine ganz besondere Rolle. Denn der Verstand ist seiner Meinung nach das wichtigste Instrument für eine zeitgemäße Auslegung der islamischen Quellen. „Der Verstand“, sagt er beschwörend, „ist nach dem Koran der größte Prophet.“ Im Koran sei das Dogma auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen dränge der Koran geradezu dahin, den Verstand zu gebrauchen. Den Verstand zu gebrauchen bedeute, jeden Tag aufs Neue entsprechend den Verhältnissen der Gegenwart Interpretationen der religiösen Quellen vorzunehmen.
Der Verstand dürfe nicht allein dafür benutzt werden, bestehende Glaubenswahrheiten rechtfertigen zu wollen. Vielmehr müsse der Verstand kritisch, frei und unabhängig die religiösen Glaubensgrundlagen hinterfragen und mit den Erfordernissen der modernen Gegenwart in Einklang bringen. Verstand ist dabei für Yaşar Nuri Öztürk weit mehr als nur der Entstehungsort intellektueller Leistungen.
Öztürk: „Der Koran benutzt (…) radikale Aussagen. Er sagt: ‚Wer seinen Verstand nicht benutzt, auf den wird Schlechtes niedergehen.‘ Das soll bedeuten: „Wer seinen Verstand nicht gebraucht, dessen Leben verwandelt sich in Chaos.“
Der Koran, stellt der Bestsellerautor tadelnd fest, werde in der Türkei nicht wirklich gelesen und studiert. Er sei zu einer „Friedhoflektüre“ degradiert worden. Man erzähle der Bevölkerung, dass sie durch bloßes Nachsprechen der arabischen Wörter Segen erhielten. Dies sei Quälerei, die mit Religion nichts zu tun habe. Öztürks türkische Koranübersetzung ist mehr als 120-mal verlegt worden und gehört zu den erfolgreichsten Büchern der modernen Türkei.
Öztürk blickt von seinem Arbeitszimmer auf den Bosporus
Handabhacken als Strafe für Stehlen nicht mehr zeitgemäß
Der Weg zu einem mit der Moderne kompatiblen Islam ist nach Öztürks Überzeugung nur über ein zeitgemäßes, historisch-kritisches Koranverständnis möglich. Er gibt ein Beispiel: Diebstahl sei ein Vergehen, stehe im Koran. Der Koran stelle, seinem Verständnis zufolge, keine Forderung auf, wonach dem Dieb die Hand abzuhacken sei. Das entspreche der Vorgehensweise der damaligen arabischen Gesellschaft.
„Aber die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit, in der die Menschen jeweils leben, müssen berücksichtigt werden. Deshalb legt jede Gesellschaft selbst fest, wie sie solche Vergehen ahndet. Der Koran stellt folgendes Prinzip auf: Wenn sich die Zeiten ändern, ändern sich auch die Regeln und Gebote.“
Daraus folgert der Islamprofessor: Die im Koran erwähnten so genannten Körperstrafen wie Steinigen und Handabhacken mögen im Arabien des 7. Jahrhunderts angemessen, da üblich gewesen sein. Im 21. Jahrhundert könnten sie aber mit Blick auf internationale wie nationale Werte- und Rechtsnormen so nicht mehr angewandt werden.
Der Westen als Auftraggeber von 9/11?
So sehr Öztürk westliche Wissenschaft, Philosophie und Fortschritt schätzt, so sehr geißelt er westliche Politik. Der Mann der Analyse und des rationalen Denkens stellt eine überraschende Behauptung auf und reiht sich ein in die lange Kette orientalischer Verschwörungstheoretiker: Die Ausführenden der Terroranschläge vom 11. September seien zwar Muslime, der Auftraggeber aber sei der Westen gewesen.
Der Westen so wird im Nahen Osten bereits am Tag der Anschläge vermutet, spiele ein schmutziges Spiel, um den Islam zu diskreditieren und mit Krieg und Sanktionen zu überziehen. Yaşar Nuri Öztürk wartet mit einer türkischen Variante auf: „Der Prophet Mohammed war einer der größten Antiimperialisten. Auf die gleiche Weise war der Republikgründer Atatürk ein Antiimperialist. Heute will der Westen diesen Antiimperialismus-Charakter des Islams mit dem „Terrorismus-Spiel“ zerschmettern“. Yaşar Nuri Öztürk sieht aus, als sei er fest entschlossen, das eben Gesagte auch zu glauben.
Autor:
Reinhard Baumgarten, SWR, Redaktion: Religion, Kirche und Gesellschaft
Quelle:
„Gesichter des Islam“, © 2011 Konrad Theiss Verlag