In der westlichen Geschichte stellt die „Renaissance“ mit ihrem Anfang[1] in Italien des 16. Jahrhunderts einen entscheidenden epochalen Wendepunkt dar, womit die außergewöhnliche europäische Kulturepoche in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet wird. Mit dieser Wiedergeburt sollten alle Lebensgebiete der Wissenschaft, Medizin, Technik, des Rechts- und Kaufmannswesens sowie der bildenden Kunst ihre einzigartige Entfaltung erfahren. In dem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch von Hans Joachim Störing Kleine Weltgeschichte der Philosophie[1] wird die Hinwendung zur Renaissance in Übereinstimmung der westlichen Geschichtsauffassung als einmaliger Erfolg der Menschheitsgeschichte gepriesen:
„Ein einzigartiger Reigen schöpferischer Genies wurde im 15. und 16. Jahrhundert der Menschheit [durch die Renaissance] geschenkt.“[2]
Dabei wird gern übersehen, dass die erste Renaissance eigentlich drei Jahrhunderte zuvor im muslimischen Andalusien und nicht wie allgemein angenommen im Italien des 16. Jahrhunderts stattgefunden hatte, jedoch mit einer radikal entgegengesetzten Ausrichtung: Die „Renaissance“ des 16. Jahrhunderts richtete sich gegen Gott: ihr wesentliches Anliegen war es, sämtliche Bereiche des Lebens zu säkularisieren. Mit Machiavelli schloss die Politik jeglichen Bezug zum Universellen und zu absoluten Werten aus. Die Nation wird anstelle von Gott zum höchsten Wert. Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden „Renaissancen“, die Europa erleben sollte, lag unter anderem darin, dass jene, die im 16. Jahrhundert in Italien (Florenz) zum Ausdruck kam, die transzendente Dimension des Menschen nach und nach zum Schwinden verdammen sollte. Diesem diametral entgegengesetzt sah die Renaissance im 13. Jahrhundert in Spanien (Córdoba) die transzendentale Dimension des Menschen als wesentliches Gut, wofür die einzelnen Werke von Ibn Massara bis Ibn Arabi, von Ibn Hazm und Ibn Baddscha zu Ibn Tufail und Ibn Ruschd auf muslimischer Seite, von Ibn Gabirol zu Maimonides als Vertreter des jüdischen Denkens in derselben geistigen Tradition Zeugnis ablegen. Für das Verständnis des Zeitgeistes von Córdoba sei zudem daran erinnert, dass sämtliche jüdischen Meisterwerke des Mittelalters wie die von Moses Ben Ezra (1055-1138) Kitāb al-Muhaara wa al-Muakara oder das philosophische Hauptwerk Dalalat alḥa´ irin des bereits erwähnten mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Moses Maimonides (1135-1204) in arabischer Sprache verfasst wurden.[3]
In diesem Zusammenhang wird jedoch von kritischen Kulturwissenschaftlern bemerkt, dass die bis in die Gegenwart hinein idealisierte Renaissance des 16. Jahrhunderts ein Synonym für die Geburt der Raubtiere[4] und somit einem Kampf des Dschungels[5] gleichzusetzen sei, die weitreichendere und vor allem kulturübergreifende Konsequenzen zur Folge hatte:
„Die Selbstkritik der westlichen Kultur, um bis zum Kern der Infragestellung vorzudringen, muss bis zur Verallgemeinerung des Marktsystems zurückgehen, das sie verursacht hat, das heißt bis zur „Renaissance“, der Entstehungszeit des Kapitalismus und des Kolonialismus, die, im Hinblick auf die Kultur, auf der einseitigen Entwicklung der technischen Wissenschaft als Motor des Wachstums beruhen und auf der Negation und Zerstörung aller anderen (nicht-westlichen) Kulturen.“[6]
Heutzutage scheinen muslimische Denker im Kontext westlicher Debatten kaum eine Relevanz zu haben. Ohnehin wird ihnen sogar der Mangel an Bereitschaft für ein kritisches Denken zur Last gelegt, wie es seitens der Islamkritiker unermüdlich zum Ausdruck kommt.[7] Dabei können – wie weitsichtige Beobachter es bereits erkannt hatten – muslimische Intellektuelle und Denker wertvolle immaterielle Werte für die hiesige Gesellschaft beisteuern, welche ihr nach und nach abhandengekommen sind, wie es der französische Theologe Jean Claude Barreau deutlich ausdrückt:
„Vor allem bringt der Islam überall eine starke Moral hervor, die den Menschen das Zusammenleben erleichtert […] „schließlich vermittelt der Islam seinen Gläubigen etwas ganz Wesentliches, Werte zum Leben nämlich, eine gewisse Weisheit und innere Heiterkeit. Besonders lehrt er den Gläubigen, dem Tod ins Auge zu blicken. Er hilft ihnen beim Sterben, das heißt, mit Würde zu leben. Die Moderne Welt ist unfähig geworden, das zu lehren. Die Werte der modernen Welt heißen Dynamik und Geschäftigkeit. Sie hat das Geheimnis der Heiterkeit verloren und den Tod in die hintersten Winkel ihrer Krankenhäuser verbannt. Zusammen mit anderen Religionen bewahrt der Islam Werte auf Lebenszeit.“[8]
Insofern wäre es eine nicht zu unterschätzende intellektuelle Bereicherung für unser Land, wenn die in diesem Sammelband vorgestellten Denker und ihre einzelnen Lebensstationen und Publikationen verstärkt wahrgenommen werden könnten. Auch nach über 60 Jahren scheint sich am Aufruf von Herbert Gottschalk nichts Wesentliches verändert zu haben: „Man sollte die Menschen kennen, mit denen man es zu tun hat. Aber was hierzulande an Kenntnissen über sie und ihre Herkunft existiert, geht trotz Tourismus und Fernsehen über einige stereotype Vorstellungen nicht hinaus.“[9]
Der erst vor kurzem verstorbene Theologe Hans Küng (gest. 2021), erkannte bereits frühzeitig den potenziell wertvollen Beitrag der muslimischen Denker angesichts des im Zeitalter von Industriegesellschaften weit verbreiteten Materialismus an. Ferner beschreibt Küng die Intention einer Erneuerung des muslimischen Denkens – das sich zeitweise im Umbruch zwischen Tradition und Moderne befindet – wonach ihre Impulse ausdrücklich vom Fundament ihres Glaubens auszugehen hat: „Warum soll es also nicht möglich sein, auf diesem religiös-ethischen Fundament eine intellektuelle, moralische, soziale, kulturelle, politische und sogar ökonomische Erneuerung zu erreichen?“[10]
Softcover in den Maßen von 14,8×21 cm, 336 Seiten für €14,00. Bestellbar in: Muslimische Intellektuelle und Denker leisten einen Beitrag in den we, 14,00 € (hirabuch.de)
[1] Siehe hierzu: Hans Joachim Störing, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 317-354, Frankfurt am Main 2002
[2] Ebd. S. 324.
[3] Siehe hierzu: Abdelwahab Meddeb, Zwischen Europa und Islam, S. 87-88, Heidelberg 2007.
[4] Roger Garaudy, Bati Terörizmi (franz. Le terrorisme occidental), S. 119-153, 2. Auflage, Pinar Yayinlari, Istanbul 2015.
[5] Roger Garaudy, Das Projekt Hoffnung (franz. Le projet espérance), S. 96, Europa Verlag, 1977.
[6] Ebd., S. 96-97.
[7] Siehe hierzu aktuell: Ruud Koopmanns, Das verfallende Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020.
[8] Zitiert aus: Rudolf Radtke, Im Namen Allahs. Der Islam zwischen Aggression und Toleranz, Bergisch Gladbach 1994.
[9] Weltbewegende Macht Islam, S. 11, München 1980.
[10] Der Islam-Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 646, München 2006.