Buch-Rezension zu: „Sendschreiben über die „Prädestination“ Hasan al Basris Sunnah-Verständnis und Inquisition in der muslimischen Geschichte“


Als der deutsche Orientalist Hellmut Ritter (gest. 1971) in verstaubten Regalen endlich das lang gesuchte Sendschreiben (Risāla)[1] von Hasan al-Basri (gest. 728) fand, konnte er kaum glauben, welche Bedeutung dieses Dokument für zukünftige Generationen, besonders in der islamischen Theologie, haben würde. Der türkische Gelehrte Mustafa İslamoğlu, der zuvor eine kommentierte Ausgabe über das Sendschreiben publiziert hatte[2], würdigt und gedenkt Ritter für seine verdienstvolle Tat mit den folgenden Sätzen:

„Viele hätten es bevorzugt, wenn ein einheimischer Gelehrter die Ehre erhalten hätte, die Risāla (Sendschreiben) in den dunklen Regalen der Istanbuler Bibliotheken zu entdecken und der Welt zugänglich zu machen. Leider ist dies nicht der Fall. Diese Ehre gebührt dem deutschen Gelehrten Hellmut Ritter. Ritter hat eine vergleichende Lektüre der Abschriften der Risāla vorgenommen und diese bereits 1933 in der Zeitschrift „Der Islam“ veröffentlicht[3]. Hasan al-Basris Abhandlung über das Schicksal, die Ritter ausgegraben hat, wurde von Lütfi Doğan und Yaşar Kutluay übersetzt und in der Zeitschrift der Theologischen Fakultät (Ankara 1954) veröffentlicht.“[4]

An dieser Stelle könnte man sich die Frage stellen, warum und weshalb dieses Sendschreiben über die Abhandlung zum Thema Schicksal, von folgenschwerer Bedeutung seien sollte? Es ist auch nicht zu leugnen, dass der sogenannte Fatalismus in der islamischen Geistesgeschichte eine zentrale Bedeutung eingenommen zu haben scheint. Nicht umsonst widmete der bedeutende Jurist Dr. Murad Wilfried Hofmann in seinem Bestseller- Buch Der Islam als Alternative ein ganzes Kapitel zu diesem Thema, da es nach wie vor Nicht-Muslime weiterhin verunsichert, ob ein freier Wille denn überhaupt konzeptionell aus der islamischen Theologie abzuleiten wäre.[5] Aus diesem Grund scheint es daher keineswegs zu überraschen, wenn der österreichische Theologe und Alttestamentler Karl Jaroš in diesem Zusammenhang unter der Überschrift „Freiheit oder Vorherbestimmung“ nachfolgend feststellt:

Diese Thematik ist sehr umstritten. Für den Durchschnittseuropäer scheint der Islam deterministisch geprägt zu sein. Wer sich jedoch genauer mit der islamischen Theologie zu befassen beginnt, wird sehen, dass der Islam jahrhundertelang um dieses Thema gerungen und verschiedene Antworten gefunden hat.“[6]

Der eigentliche Grund, weshalb seit Jahrhunderten immer noch darüber spekuliert wird, ist, dass nach der Ermordung des vierten Kalifen Ali ibn Abi Talib (gest. 661) die Prädestinationslehre durch die neuen Machthaber der Umayyaden-Herrschaft sehr geschickt in die Islamische Theologie implementiert wurde. Als Yazid I. (gest. 683) von seinem Vater Muawiya ibn Abu Sufyan (gest. 680) als Nachfolger zum zweiten Umayyaden-Kalifen eingesetzt wurde und kurze Zeit später den Auftrag für die Ermordung des Enkelsohnes des Propheten Husayn ibn Ali (gest. 680) dazu noch anordnete, so benötigte er für diese fatale politische Entscheidung eine plausible theologische Rechtfertigung, um die auflehnenden Gemüter der Massen zu ernüchtern, damit es keinen Beweggrund für einen Massenaufstand gegen die brutale Ermordung von Husayn unter der Bevölkerung zustande kam. Denn der umayyadische Gouverneur von Kufa Ubayd Allah ibn Ziyad (gest. 686), ließ auf Anordnung auf die schlimmste Art und Weise die Familienmitglieder des Propheten in Karbala massakrieren und als Triumph des Sieges den Kopf von Husayn abschlagen, den er voller Stolz auf einem Tablet dem umayyadischen Kalifen Yazid servierte.

Einige Historiker behaupten fälschlicherweise, Yazid habe geweint, als er den enthaupteten Kopf Husayns erblickte, der in den Palast gebracht wurde.[7]

Das Gegenteil war jedoch der Fall. Als Yazid mit einem Stock in seiner Hand an den Lippen von Husayn zog, sagte er selbstgefällig: „So nehmen Wir das Leben derer […] die gegen Uns rebellieren.“[8]

Letztlich nutzte Yazid die Vorstellung von Gottes Fügung als theologische Rechtfertigung, um die Hinrichtung von Husayn als vorherbestimmtes göttliches Schicksal darzustellen und damit seine eigene Verantwortung für diese Grausamkeit zu verbergen. Nach der Ermordung von Husayn ließ Yazid dessen Sohn Zainal Abidin (gest. 713) in Ketten angelegt zu sich bringen und wies sarkastisch die Schuld von sich, indem er in aller Deutlichkeit verneinte, dessen Vater getötet zu haben. Demnach sei Gott einzig und allein für die Ermordung von Husayn verantwortlich, da das Schicksal so von Gott besiegelt worden sei, wie im nachfolgenden Gespräch in Zainal Abidins Gegenwart Yazid zu versichern gab:

Aber du siehst, dass Gottes Urteil auf diese Weise manifestiert worden ist. Mein Kind, wenn du etwas brauchst, schreibe mir und lass es mich wissen.“[9]

Damit wurde der Grundstein um die Prädestinationslehre vom höchsten Repräsentanten der damaligen Führung der Muslime zugrunde gelegt, um alle Widrigkeiten und Repressalien unter der Bevölkerung religiös rechtfertigen zu können, wonach angeblich Gott einzig und allein das Schicksal der Menschen bestimmen würde. Jedoch war der theologische Rückgriff um die Interpretation der sogenannten Vorherbestimmung keineswegs eine neue Erfindung der Umayyaden-Herrscher gewesen. Ihre Tragweite reichte allenfalls in die altarabische Polytheistische Gesellschaft zurück, von dem der Qur’an unzählige Male Notiz nimmt, wie zum Beispiel in Folgenden Versen:

Die Beigeseller werden sagen: „Hätte Gott gewollt, so hätten weder wir noch unsere Väter beigesellt, und wir hätten nichts als ‹verboten› deklariert.“ Genauso leugneten die Früheren, bis sie unsere Gewalt schmecken mussten. Sprich: „Habt ihr denn Wissen? Dann macht es uns doch kund! Ihr folgt doch nichts anderem als eurem eigenen Gutdünken und hegt nichts anderes als nur Vermutungen.“ (al-An’am, Sure 6, 148)

Da sprachen die Beigeseller: „Hätte Gott gewollt, dann hätten wir nichts außer ihm verehrt, weder wir noch unsere Väter, und hätten außer ihm auch nichts als heilig angesehen!“ So taten es schon die vor ihnen […].“ (an-Nahl, Sure 16, 35)

Tatsächlich gelang es den Umayyaden-Herrschern unmittelbar nach dem Ableben der vier „Rechtgeleiteten Kalifen“ (al-chulafa ar-raschidun)[10] die polytheistische Doktrin der Vorherbestimmung/Schicksalsglaube wieder salonfähig zu machen, indem der ursprüngliche Islam mit heidnischen arabischen Traditionen vermischt wurden. Damit wurde in der muslimischen Welt die Grundlage für eine Inquisition gelegt, indem durch die Politisierung die Religion zum Mittel der politischen Erfolge instrumentalisiert werden konnte.[11] Alle kritischen Stimmen innerhalb der Bevölkerung zu den politischen Widrigkeiten der Umayyaden, konnten nun ohne weiteres mundtot gemacht werden mit der Begründung, dass das göttliche Schicksal so entschieden habe.

Die sogenannte „Schlacht von al-Harra“[12] gilt als eines der schlimmsten Ergebnisse dieser Indoktrinierung. Bis heute wird die Tragödie um al-Harra besonders von zeitgenössischen sunnitischen Gelehrten, kaum thematisiert, weil ihre verheerende Historie sehr verstörend und gegensätzlich auf die glorifizierte Darstellung der muslimischen Geschichte wirkt. Im Jahre 683 lehnte nahezu die gesamte Stadt des Propheten (Medina) das Kalifat von Yazid ab, weshalb als Folge sich eines der erschreckendsten Ereignisse in der Geschichte des Islam, ereignen sollte. Die Medinenser konnten Yazid und seiner Regierung das Massaker an Husayn und seinen 72 Familienangehörigen nicht vergeben, was zu einer starken Opposition gegen sein Kalifat führte. Der klassischen Quellen zufolge wurde die Stadt für drei Tage und drei Nächte vom Umayyadischen-Kalifen Yazid zur Plünderung, Vergewaltigung und Tötung freigegeben. Etwa zehntausend Menschen, darunter 80 Sahāba[13] wurden in Medina massakriert, weil sie sich dem Umayyadischen Tyrannei widersetzten. Die Zahl der brutal ermordeten Muslime aus den Reihen der angesehenen Quraisch betrug an der Anzahl 700. Bei den Ansar, den Einheimischen von Medina, war die Zahl der Ermordeten noch höher gelegen.[14] Genauer gesagt: Die Verbrecher durften tun und lassen, was sie wollten. Wie der Historiker ibn Qutaiba (gest. 889) in seinem Werk Al-Imāma wa al-siyāsa[15] tradiert, wurden auf der Grundlage dieser Legitimierung etwa 900 Frauen obendrein vergewaltigt. Die Kinder unbekannter Väter, die aus dieser Vergewaltigung hervorgingen, werden in islamischen Quellen als „Kinder von Harra“ bezeichnet. Einer der Gefährten des Propheten, dessen Wohnung geplündert werden sollte, war Abu Sa’id al-Hudri (gest. 693), der jedoch wegen seines bescheidenen Lebensstils keine Gegenstände zu Hause hatte, weshalb seitens der Plünderer nichts gestohlen werden konnte. So rupften sie als Schikane den Bart dieses geehrten Gefährten aus.[16] Daher identifizierte der französische Philosoph Roger Garaudy (gest. 2012) in seinem bahnbrechenden Buch Größe und Niedergang der islamischen Welt diese Periode mit folgenden Worten: „Die erste Dekadenz des Islam beginnt also mit den Umayyaden.“[17]

Insofern wird in dem vorliegenden Buch der Leser vieles finden, was ihm unbekannt sein dürfte, wenn nicht sogar tief schockieren wird. Bemerkenswert gelingt es dem Autor Zeki Bayraktar, die Geschichte und die weltanschauliche Auseinandersetzung in der Federführung von Hasan al-Basris Sendschreiben gegen die fatalistische Doktrin, imponierend nachzuzeichnen, dessen verheerende Nachwirkung zu sämtlichen Tragödien geführt haben.

Übersetzt von Serdâr Yücedağ: Zeki Bayraktar, „In Bezug auf sein Sendschreiben über die „Prädestination“ Hasan al Basris Sunnah-Verständnis und Inquisition in der muslimischen Geschichte“, tredition Verlag, Ahrensburg 2024, 334 Seiten, Paperback, ISBN: 978-3-384-22743-0, Preis: EUR 16,95.


[1] Fariduddin Attar (gest. 1221) schreibt in Muslimische Heilige und Mystiker (S. 17, Diederichs Verlag, München 2002) dazu: „Viele seiner Predigten – er war ein brillanter Redner – und Aussprüche werden von arabischen Schriftstellern immer wieder zitiert und nicht wenige seiner Briefe sind erhalten geblieben.“                             

[2] Hasan el-Basri’nin Kader Risalesi ve Şerhi, Verlag Düşün Yayıncılık, Istanbul 2012.

[3] Hellmut Ritter: „Studien zur Geschichte der islamischen Frömmigkeit. Hasan al-Basri“ in Der Islam, 21 (1933) 1–183.

[4] Ebd., S. 70.

[5] Siehe hierzu: Der Islam als Alternative, S. 79-85, 6. Auflage, Çağrı Yayınları, Istanbul 2010.

[6] Der Islam, S. 118, Verlag UTB 2012.

[7] Vgl. Ibn ʿAsākir Taʾrīḫ madīnat Dimašq, Bd. 65, S. 396. Alle 80 Bände stehen online zur Verfügung in: https://archive.org/details/TarikhDimashq/00/mode/1up (zuletzt abgerufen am 28.09.2023); vgl. hierzu auch: Ibn Kathīr al-bidāya wa-n-nihāya (dt. Der Anfang und das Ende), Bd. 8, S. 588, Verlag Daru-l-Ma´rifa, Beirut Libanon, 4.Auflage 1998.

[8] Zitiert aus: al-Masʿūdī Murūdsch adh-dhahab wa-maʿādin al-dschauhar, Bd. 5, S. 144, Ausgabe Beirut 1973.

[9] Vgl. Kitāb aṭ-Ṭabaqāt al-kubrā, Bd. 5, S. 212, Ausgabe Beirut 1968; Ibn al-Athīr, al-Kāmil fī ʾt-tarīch, ediert von J. Tornberg, Bd. 4, S. 88, Ausgabe Beirut 1965.

[10] „Rechtgeleitete Kalifen“ ist ein unter Sunniten verbreitete Begrifflichkeit, welche die ersten vier Kalifen umfasst: Abu Bakr, Umar ibn Chattab, Uthman ibn Affan und Imam Ali.

[11] Siehe hierzu: Yaşar Nuri Öztürk Der verfälschte Islam, S. 14-19, Grupello Verlag, Düsseldorf 2007.

[12] al-Harra ist ein felsiges Land in Medina.

[13] Sahāba ist der Sammelbegriff für die Gefährten und Begleiter des Propheten Muhammad.

[14] Siehe hierzu: al-Balādhurī Ansāb al-ašrāf (dt. Abstammungsverhältnisse der Adligen), Bd. 5, S. 350-351, Beirut ohne Datum.

[15] Deutsch: „Imamat und Herrschaft.“

[16] Al-Imāma wa al-siyāsa (dt. Imamat und Herrschaft), Bd. 1, S. 180-190, Beirut Ausgabe 1990.

[17] Roger Garaudy Größe und Niedergang der islamischen Welt, S. 73, Verlag tredition, Hamburg 2019.

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

Kategorien

Neueste Beiträge