Wozu Religionen?

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Was ist Leben? Fragten sich die Autoren Ulrich Schnabel und Andreas Sentker von der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ in ihrem Leitartikel „Vom Wert des Lebens“.1

Das diese Frage nicht leicht und befriedigend zu beantworten ist, lässt sich wie ein roter Faden in ihrem Beitrag nach sich ziehen. So ging vor ca. 2500 Jahren der griechische Philosoph Empedokles noch davon aus, dass eine ausgewogene „Mischung der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde“ eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung des Lebens wäre. Nach Jahrzehnte langer Forschungen an verschiedenen Laboren kam der US-amerikanische Biologe und Chemiker Professor Stanley Miller (gest. 2007) zu dem nüchternen Ergebnis: „Wir wissen nicht, wie das Leben begann.2

So sehr der Anfang des Lebens auch heute noch ein Rätsel unter den Naturwissenschaftlern skizziert wird, so wäre es nicht zu verkennen, dass sie eng mit der Religion verwoben ist. Dies geht im Grunde aus der Erzählung und Erinnerung der „Urzeiterinnerungen“ des Buches Genesis der Bibel hervor, die mit den paradiesischen Urzustand den Beginn der Menschheit avisiert. Abgesehen davon, kann kein letztes Urteil darüber getroffen werden, was denn überhaupt die Urreligion seit Anbeginn des Menschen war, oder ob sie im Gegensatz dazu doch mit keiner Religion im herkömmlichen Sinne vertraut war. Aber auch nicht, ob sie seit Anbeginn animistischer oder eher doch monotheistischer Natur war. Nach Professor Hans Küng hat niemand die Befugnis dazu, eine gesicherte Aussage darüber zu treffen, weil die erforderlichen Quellen hierzu fehlen würden: „Weil für eine historische Erklärung des Ursprungs der Religion schlicht die notwendigen Quellen fehlen […]“.3

Heutzutage sind die abertausende Glaubensvorstellungen und religiöse Kulten nicht mehr zu übersehen. Allerdings stellt sich hier unter den Anthropologen weiterhin noch die Frage, ob der Glaube kulturell, also vom Menschen selbst nach längerem Prozess konstruiert, oder eben doch in seinen ontologischen Wurzeln zu ergründen sei. Die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und der Islam) gehen gleichwohl davon aus, dass der erste Mensch Adam, den Monotheismus auf Erden verkörperte. Deshalb wäre die Annahme undenkbar, indem der Monotheismus eine zeitliche Abfolge vom Polytheismus wäre. Der iranische Philosoph Prof. Seyyed Hossein Nasr, beschreibt den Übergang vom monotheistischen zum polytheistischen Glauben folgendermaßen: „Vielmehr war es so, dass der Mensch infolge eines religiösen Niedergangs von Zeit zu Zeit vom Monotheismus des ersten Menschen abwich. Ursprünglich war der Mensch Monotheist; allmählich wurde er Polytheist und muss immer wieder an die ursprüngliche Lehre von der Einheit erinnert werden […] Der Niedergang entsteht durch den korrumpierenden Einfluss des irdischen Milieus, durch die Erde, die alles herabzieht, die jede spirituelle Kraft mit wachsender Entfernung von ihrer ursprünglichen Quelle verfallen lässt“.4

Jedenfalls soll der Glaube vor über 600.000 Jahren schon ein wesentlicher Bestandteil der Menschheit gewesen sein. Aufgrund diverser Fragmente von frühmenschlichen Schädeln in Äthiopien haben Forscher markante Spuren entdeckt, die auf ein Begräbnisritual hindeuten.5

Feststehen soll jedenfalls, wonach seit ca. 50.000 Jahre v.Chr. der Homo sapiens seine Toten bestatte. Grabbeigaben haben zudem noch die Erkenntnis erhärtet, dass sie an ein Weiterleben nach dem Tod glaubten.6

Diese Annahme soll jedenfalls niemanden überraschen, da ein Glaube an die Transzendenz in jedem Menschen tiefgründig enthalten sei, so sehr er sich selber als Atheist oder Agnostiker auch bekennen mag. Diese These schlussfolgert der Begründer der Logotherapie und Professor für Neurologie und Psychiatrie Viktor Frankl. Nach Frankl ist der „unbewusste Gott“ in jedem Individuum intendiert, der nur unbewusst im Alltag verdrängt wird, weshalb Er ihm nach wie vor selbst verborgen bleibt. Selbst die ältesten Zeugnisse in der Antike sowie die Psalmen, würden diese Annahme außerdem historisch noch bekräftigen: „Die sich so enthüllende unbewusste Gläubigkeit des Menschen- mitgegeben und mit gesehen im Begriff seines „transzendenten Unbewussten“– würde besagen, dass Gott von uns unbewusst immer schon intendiert ist, dass wir eine, wenn auch unbewusste, so doch intentionale Beziehung zu Gott immer schon haben. Und diesen Gott eben nennen wir den unbewussten Gott. […] vielmehr meint sie, dass Gott mitunter uns unbewusst ist, dass unsere Relation zu Ihm unbewusst sein kann, nämlich verdrängt und so uns selbst verborgen. Schon in den Psalmen ist die Rede vom „verborgenen Gott“; und in der hellenistischen Antike gab es den „Dem unbekannten Gott“ geweihten Altar. Was nun unsere Formel vom „unbewussten Gott“ meint, wäre dann die verborgene Beziehung des Menschen zum seinerseits verborgenen Gott“.7

Wird durch eine entstandene Notsituation der Glaube auch zum Anker für Nichtgläubige Menschen?

In Erfahrungsberichten beschreiben unzählige Agnostiker und Atheisten, wie sie in Unglücksfällen einen plötzlichen Funken zum Glauben an die Transzendenz verspürten. Besonders in prekären Umständen wie z. B. im Verkehrsunfall oder in einem Krankheitszustand, beginnt der betroffene einen heimlichen Pakt mit Gott einzugehen. Der Nobelpreisträger für Literatur Orhan Pamuk, schildert aus eigener Erfahrung seine aufgeweckte Beobachtung über den Gesinnungszustand der west- und laizistisch orientierten Türken in Istanbul seiner Kindheit nach. Danach hätten alle Nichtgläubigen Menschen in seinem Umfeld- besonders in schweren Krisen- einen heimlichen Zugang zur Transzendenz gesucht. Pamuk schreibt dazu: „[…] dass die meisten der laizistischen, westorientierten und mehr oder weniger ungläubigen Istanbuler […] die keinen religiösen Pflichten nachkommen, sehen zwar aus Standesbewusstsein auf religiöse Menschen herab wie ein moderner Snob auf die kulturellen Gepflogenheiten einfacher Leute, doch stellte ich mir immer vor, dass sie unter besonderen Umständen, bei einem Verkehrsunfall etwa oder im Krankenhaus, doch noch schnell mit Gott einen heimlichen Pakt eingehen“.8

Sicherlich begrenzt sich dieser Umstand nicht nur auf die Istanbuler Türken der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Als Psychotherapeut und Seelsorger, stellt die intuitive Gläubigkeit für Dr. Eugen Drewermann keinesfalls eine Randerscheinung nur unter der Bedingung der schweren Last des Schicksals dar. Interessanterweise soll das intuitive Auftreten von religiösen Gefühlen, nachrangig kein Garant für eine anhaltende Beständigkeit gleichkommen. Denn nach einer unmittelbaren Überbrückung der schweren persönlichen Situation, kann gewiss die Erinnerung an die Temporäre Gläubigkeit, zusehends auch als eine persönliche Schwäche im Nachhinein aufgefasst werden: „Gewiss, wenn die Not sehr groß ist, wenn sozusagen alle Stricke reißen, kann man erleben, dass selbst überzeugte Atheisten die Hände falten und beten; doch betrachten sie es selber im Rückblick später wie eine schwer zu vergebende Schwäche“.9

Erstaunlicherweise erwähnt der Koran nachdrücklich den Gemütszustand jener Agnostiker, die in Not zu ihrem Schöpfer flehen, freimütig jedoch nach Eintritt von stabilen Verhältnissen wieder bewusst, den instinktiven Funken der Transzendenz unterdrücken: „Und wenn dem Menschen Unheil widerfährt, ruft er Uns auf der Seite (liegend), im Sitzen oder Stehen an. Wenn Wir ihm aber sein Unheil hin weggenommen haben, geht er vorbei, als hätte er Uns nicht wegen eines Unheils, das ihm widerfahren ist, angerufen. So ist den Maßlosen ausgeschmückt, was sie tun“ (Koran 10:12).10

Auf dem Prüfstand gestellt, wird die Religiosität in mannigfaltiger Weise in der moderne entsprechend praktiziert. Das bedeutet konkret, das kein Dienst an einer institutionellen Kirche oder Tempel, notwendigerweise ein exklusives Synonym für die Religiosität darstellt. Die neuen gelebten Religionen haben schon unlängst viel subtilere Formen angenommen, besonders seit dem Zeitalter der industriellen Revolution. Zu diesem Ergebnis kommt der Psychoanalytiker Prof. Erich Fromm (gest. 1980). Fromm unterstreicht in seinen Studien die Notwendigkeit der Religion als Orientierung für das menschliche Wesen, ohne dessen Beachtung kein System überleben kann. Des Weiteren identifiziert er die neue Rolle der Religion in der westlichen Gesellschaft wie folgt zusammen : „Wenn wir die Religion im weitesten Sinne als Rahmen der Orientierung und als Objekt der Hingabe verstehen, dann ist tatsächlich jedes menschliche Wesen religiös, denn niemand kann ohne ein solches System leben, wenn er bei Verstand bleiben will. Demnach ist unsere Kultur ebenso religiös wie jede andere. Unsere Götter sind die Maschinen und der Leistungsgedanke; der Sinn unseres Lebens ist voranzukommen, vorwärtszudrängen und der Spitze so nah wie möglich zu kommen“.11

Auch andere Zeitgenossen, wie z.B. der muslimische Gelehrte Muhammad Asad (gest. 1992), der ferner noch gleicher Jahrgang wie Fromm war, benutzte eine noch kritischere Sprache um die Symptome der Religiosität das sich im Umbruch befindlichen 20. Jahrhundert zu deuten. Danach wären: Die Tempel dieser Religion sind die gigantischen Fabriken, Kinos, chemischen Laboratorien, Tanzlokale, hydroelektrischen Werkanlagen; ihre Priester sind Bankiers, Ingenieure, Filmstars, führende Industrielle, Rekordflieger.“12

Wegen diesem Befund soll der Nichtglaube an Gott, zwangsweise die Individuen zu Sklaven unzähliger moderner Götzen machen. Der türkische Buchautor Dr. Ismail Büyükcelebi schildert dies deshalb wie folgt: „Diejenigen, die nicht an Gott glauben und nicht den Einen Gott verehren, werden zwangsweise zu Sklaven zahlreicher Gottheiten“.13

Wie dem auch sei, verkennt heutzutage keine Seriöse Studie mehr die Revitalisierung der Religionen, sei sie Institutioneller oder auch privater Natur. Trotz der gigantischen Fortschritte in der Wissenschaft und dem hohen Bildungsstandard, wächst gegenwärtig das Interesse an den Religionen weltweit.14

Besonders in den letzten dreißig Jahren lässt sich die Beobachtung anstellen, wie schnell und vor allem mit welcher Intensität die Religionen ein großes Spektrum an Anhängerschaft gewinnt, wie dies der evangelische Autor Prof. Gottfried Küenzlen folgerichtig bemerkt: „ dass seit rund dreißig Jahren alle Weltreligionen, wenngleich in unterschiedlicher Intensität und Verbreitung, einen Prozess von Revitalisierung erleben. In nahezu allen Kulturkreisen sehen wir eine Rückbesinnung auf ihre jeweiligen Herkunftsreligionen“.15

Wie lässt sich die Rückbesinnung auf die Religionen plausibel erklären?

Hierzu können hauptsächlich die folgenden Punkte angeführt werden:

  • Die Suche nach Sinngebung durch die althergebrachten Fragen wie: Woher? Weshalb? Und Wohin?.

  • Gebete, Meditation und Rituale können therapeutische Funktionen haben.

  • Durch ein religiöses Leben, kann sich ein positives Lebensgefühl entwickeln.

  • Die Erklärung des Daseins.

  • Alle Religionen wollen die Menschen orientieren.16

  • Wegen der eigenen Schwäche und Ohnmacht.17

  • Wegen Identitätsfindung und der Suche nach Geborgenheit.

Ein weiterer grundlegender Punkt für die Zunahme der Religiosität, kann unter anderem als Ausdruck eines sozialen Protests gedeutet werden. Hiernach sind jugendliche aus „Protest gegen die Entgleisungen der modernen Industriegesellschaft schon seit längerem auf einer ideologischen Reise“. Dr. Murad Wilfried Hofmann beschreibt diese Gegebenheit prägnant wie folgt: „(Weil sie) auf Suche nach einer universellen, gerechteren Gesellschaft von höherer Moral und ohne einzwängende Hierarchien, einer Gesellschaft, die Nestwärme verbreitet, Halt bietet und dem sinnlos gewordenen Leben einen tieferen, einen tiefen Sinn gibt“.18

Es ist die vornehmliche Aufgabe der Religionen (besonders der Monotheistischen), Auskunft über das Dasein zu geben. Keine andere Weltanschauung, vermag noch konkretere Aussagen hierfür geben zu können und genau hier tritt die außergewöhnliche Rolle der Religion in den Vordergrund. Denn sie klärt unmissverständlich auf, warum, weshalb und wohin die Reise des Menschen geht: „Der Mensch ist unfähig, sich das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis von Geburt und Tod, das Geheimnis der Unendlichkeit und Ewigkeit zu erklären. Sein logisches Denken stößt an unüberwindbare Mauern“.19

Nach Auswertung zahlreicher autobiographischen Schriftquellen, kommt der evangelische Theologe Prof. Friedrich Wilhelm Graf zu dem Entschluss, dass besonders nach der rasanten Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, ein starkes Bedürfnis „nach etwas Bleibendem im permanenten Wechsel, nach unbedingtem Sinn und metaphysischer Geborgenheit“ eine wesentliche Rolle im Leben der Menschen in westeuropäischen Ländern einnahm. Dementsprechend konnte die Religion eine die sich im Umbruch befindlichen Gesellschaft, eine nicht zu verkennende kollektive Identität gewähren: „Religion sollte den Einzelnen aus dem gewißheitsverzehrenden Wandeln herausheben und ihm einen ganzheitlichen und letztgültigen Sinn erschließen. Sie sollte zugleich Gruppen – bis hin zur Nation – eine stabile kollektive Identität erschließen und den Einzelnen so in eine überindividuelle Gemeinschaft integrieren […]“.20

Entsprechend und stellvertretend auch für andere Religionen, betont Walter Kardinal Kasper deshalb die Notwendigkeit der Religion in einem Satz folgerichtig zusammen: „Der Mensch kann das Ganze seiner Daseinsbedingungen nicht „aufklären“.21

Diverse ideologische (vor allem atheistische und agnostische) Naturwissenschaftler haben dennoch in der Geschichte den erheblichen Versuch unternommen, den Sinn des Lebens aufgrund von komplizierten Experimenten und Beobachtung in sämtlichen Laboren, sowie mittels der komplizierten kausalen Naturgesetze zu erklären.22 Doch es scheint, als ob diese Naturwissenschaftler im Angesicht eines kreativen Schöpferglaubens auf ihre Grenzen gestoßen sind.

Dazu kann beispielhaft die lebhafte Diskussion zwischen dem Philosophen Prof. Jean Guitton und den Naturwissenschaftlern im Bereich der Astrophysik und der Theoretischen Physik, den Gebrüdern Grichka und Igor Bogdanov illustriert werden. Für Guitton gibt es keine plausible Erklärung dafür, was vor dem Urknall bzw. was sie im Grunde zu dieser Explosion veranlasste. Hier vermag zweifelsohne nur die Religion konkret zu antworten, warum das Dasein ihren berechtigten Platz hat und nicht irgendwelchen Zufällen zu verdanken ist. Gleichwohl bleibt Grichka Bogdanov keine andere Wahl, als die evidenten Grenzen der Naturwissenschaft in diesem Punkt zu bestätigen. Jean Guitton: „Wenn man annimmt, dass es möglich ist, sehr genau zu beschreiben, was in der 10-43sten Sekunde nach der Schöpfung geschehen ist, was hat sich dann vorher ereignet? Die Wissenschaft scheint außerstande zu sein, irgend etwas Vernünftiges, im tiefsten Sinne des Wortes, über den uranfänglichen Moment zu sagen“. Grichka Bogdanov: Tatsächlich haben die Physiker nicht die geringste Vorstellung von dem, was das Auftauchen des Universums erklären könnte. Sie können bis 10-43 Sekunden vordringen, aber nicht weiter. Sie stoßen an die berühmte Plancksche Mauer“ […].23

Es gehört sicherlich nicht zum Kompetenzbereich der Naturwissenschaft, das Rätsel der Schöpfung durch vordergründige Sinngebung erklären zu können. Sie ist lediglich und ausschließlich nur dazu autorisiert, die kompliziert messbaren Abläufe der Naturgesetze darzulegen. Des Weiteren soll der beständige Fortschritt in der Wissenschaft, nicht zwangsläufig eine positive Entwicklung im Leben des Menschen herbei führen. Deshalb ist der ehemalige Papst Benedikt XVI. der Ansicht, dass der Fortschritt allein keine moralische Denkweise und daraus resultierend auch kein inneres Gleichgewicht begünstigt: „Wir haben ja gesehen, dass im Fortschritt zwar unser Können gewachsen ist, aber nicht auch unsere moralische und menschliche Größe und Potenz. Dass wir wieder ein inneres Gleichgewicht finden müssen und auch geistliches Wachstum brauchen, das erkennen wir durch die großen Bedrängnisse der Zeit immer mehr“.24

Und genau hier an dieser Stelle, treten die Religionen übereinstimmend auf, indem sie die komplizierten Zusammenhänge des Daseins in einer allgemein verständlichen Sprache darbieten. Denn der Mensch ist nicht nach eigenem Ermessen bewilligt, eine ungetrübte Erklärung in diesem Sinne zu liefern. Deshalb bedarf es durchweg einer Vermittlung und Erklärung mithilfe einer Offenbarung, sei sie in Form von entsandten Propheten oder der Übermittlung von heiligen Schriften. Aus diesem Grund, soll der Glaube letztendlich ein unersetzlicher Rahmen für das Unerklärliche sein.25

Dennoch bleibt es ein Rätsel für die Nichtgläubigen, wie im Gegensatz zu ihnen, die Gläubigen Menschen aus freiem Eifer einen so hohen Aufwand an Ressourcen bewerkstelligen können, darunter: „Viel Zeit investieren, das praktizieren von Ritualen (Gebete, Opfertiere, Pilgerfahrt) und die Ausgabe von finanziellen Mittel, wie z. B. für den Ausbau von Sakralbauten (Tempel, Kirchen, Moscheen usw.).26 Noch schlimmer wird die religiöse Anforderung von Juden und Muslimen zur Beschneidung, mit Entsetzten diskreditiert.27 Schließlich intervenierte die Bundeskanzlerin Angela Merkel sich persönlich in die öffentliche Kontroverse mit dem anmahnenden Satz: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation“.28

Erfreulicherweise kam es letztendlich trotz des medial-öffentlichen Drucks, doch nicht zu einem rechtlichen Verbot zur religiösen Beschneidung. Da die freie Religionsausübung durch das Grundgesetz unmissverständlich geschützt sei.

Berechtigterweise kann hier in aller Aufrichtigkeit auch gefragt werden, weshalb der energische Aufwand an Ressourcen bei Gläubigen Menschen direkt ins Auge sticht, während sich aber unzählige Individuen ihre Aufwendungen an Ressourcen wie z. B. in diversen Vereinen, Parteien, Gewerkschaften und einschließlich ihrer freizeitlichen Aktivitäten, seltsamerweise nicht mit Skepsis begegnet und in Frage gestellt wird?

Schlussbetrachtung

Seit dem Anbruch der Moderne verbreitete sich zunehmend nach Beobachtungen von kritischen Sozialforschern ein destruktiver Individualismus in den westlichen Industriestaaten, der seinesgleichen noch in der Geschichte sucht. Das epochaler Zeitalter der sogenannten Moderne, war zugleich auch der Anfang vom Prozess eines unwiderruflichen Werteverfalls der Gesellschaft gekennzeichnet.29 Noch verheerender und die damit bedingte Folgeerscheinung, war der Verlust von der Transzendenz der Massen, die für die Provokation eines exzessiven Hedonismus den Weg bereitete, ein Hedonismus: „der seine Gefühlswelt zum Maßstab aller Dinge nimmt und von unaufhörlichem Fortschritt ein Konsumparadies auf Erden erwartet“.30 Selbst in Deutschland soll die inoffizielle Staatsreligion der „Hedonismus“ sein.31

Der international renommierte Religionsphilosoph Frithjof Schuon (gest. 1998), beschreibt eindrucksvoll das moderne Denken, inbegriffen seiner Destruktivität und seiner fatalen Auswirkungen auf die konstruktive Entwicklung im modernen Zeitalter. Nämlich, dass nicht mehr das Erkenntnisvermögen des Menschen zum Maßstab in grundsätzlichen Fragen konsultiert wird. Darüber hinaus wird das Bewusstsein von äußeren Faktoren, wie z. B. von diversen naturwissenschaftlichen Disziplinen in ungeahntem Ausmaß tendenziös und nachhaltig mitgeprägt: „Das moderne Denken ist keine festumrissene Lehre unter anderem, es ist das, was seine derzeitige Entwicklungsphase erfordert, und wird das sein, wozu die materialistische und experimentelle Wissenschaft oder die Maschine es machen werden. Nicht mehr das Erkenntnisvermögen des Menschen entscheidet, was der Mensch, was Intelligenz, was die Wahrheit ist, sondern die Maschine-oder die Physik, die Chemie, die Biologie“. 32

Der für das Jahr 1946 mit dem Literaturnobelpreis gekrönte Schriftsteller Hermann Hesse (gest. 1962), betont abschließend die nicht zu verkennende Bestimmung des Menschen, dass im Angesicht des Sittenverfalls und dem daraus resultierenden Chaos die enorme Besonderheit des Sinn des Lebens hervorhebt. Gleichwohl welcher Konfession er angehören mag:Jeder, der an einen Sinn im Leben und an die hohe Bestimmung des Menschen glaubt, ist im heutigen Chaos wertvoll, einerlei zu welcher Konfession er gehört und an welche Zeichen er glaubt […]“.33

1 Siehe hierzu ausführlich: Die Zeit, 1. April 2015.

2 Zitiert aus: Die Zeit, S. 29, 1. April 2015.

3 Der Islam, S. 56, Taschenbuchausgabe 2006, Piper Verlag.

4 Ideal und Wirklichkeit des Islam, S. 38, Eugen Diederichs Verlag 1993.

5 Vgl. Glaube und Religion in GEOkompakt, Nr. 16, S. 26-40.

6 Vgl. Peter Heigl, Religion und Religionen, S. 33, GABAL Verlag 2006.

7 Viktor Frankl, der unbewusste Gott, S. 47, 2. Auflage 1994, dtv.

8 Orhan Pamuk, Istanbul- Erinnerungen an eine Stadt, S. 217, Carl Hanser Verlag 2006.

9 Eugen Drewermann, Hat der Glaube Hoffnung? S. 14-15, 2. Auflage Walter Verlag 2001.

10 Vgl. Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, S. 376, Fußnote 19, Patmos Verlag 2009. Siehe hierzu auch die folgende Koranverse: 10:22-23 und 6:40-41 an.

11 Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, S. 152, 5. Auflage 2006, dtv.

12 Islam am Scheideweg, S. 55, Edition Bukhara, 1. Auflage 2007.

13 Zitiert aus: Leben im Lichte des Islam, S. 12, Fontäne Verlag, 3. Auflage 2008.

14 Vgl. Ali Ünal, Zeitgenössische Themen im Spiegel des Islams, S. 21, 1. Auflage Föntäne Verlag 2007.

15 Die Wiederkehr der Religionen, S. 29, Olzog Verlag 2003.

16 Vgl. Murad Wilfried Hofmann, Den Islam verstehen, S. 1, Cagri Yayinlari, Istanbul 2007.

17 Vgl. Ismail Büyükcelebi, Leben im Lichte des Islam, S. 12, Fontäne Verlag, 3. Auflage 2008.

18 Vgl. Murad Wilfried Hofmann, Reise nach Mekka, S. 164-165, Diederichs Gelbe Reihe 1996.

19 Zitiert von Muhammad Asad aus: Islam am Scheideweg, S. 27, Edition Bukhara 1. Auflage 2007.

20 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter- Religion in der modernen Kultur, S. 174-175, Lizenzausgabe für die politische Bildung, Bonn 2004.

21 Was soll ich glauben? Die Weltreligionen, S. 30, Herder Verlag 2008.

22 Siehe hierzu: Eugen Drewermann, Wozu Religion?, S. 118, Herder Verlag 2001.

23 Siehe hierzu im vollen Umfang die Diskussion in: Gott und die Wissenschaft, S. 37, Artemis & Winkler Verlag, 2. Auflage 1993.

24 Benedikt XVI., Licht der Welt, S. 164, Herder Verlag 2012.

25 Vgl. Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, S. 294.

26 Siehe hierzu: Jared Diamond, Vermächtnis- Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können, S.418, S. Fischer Verlag 2012,

27 Siehe detailliert zur Beschneidung von Juden und Christen: Hans Küng, Das Judentum, S. 33-34, Piper Verlag, 2. Auflage 1991.

29 Siehe hierzu besonders: Daniel Bell, The Cultural Contradictions of Capitalism, London 1976.

30 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam als Alternative, S. 21, 3. Auflage Diederichs Verlag 1995.

31 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam im 3. Jahrtausend. Eine Religion im Aufbruch, S. 25, Diederichs Verlag 2000.

32  Den Islam verstehen, S. 36-37, Otto Wilhelm Barth Verlag, 2. Auflage der Sonderausgabe 1991.

33 Zitiert aus: Peter Heigl, 30 Minuten Religion und Religionen, S. 33, GABAL Verlag 2006.

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

3 Kommentare

  • Hallo,

    sehr informativer und sprachlich stark geschriebener Artikel. Ich hatte sehr viel Freude beim Lesen. Es ist tatsächlich interessant, dass der Glaube an die Transzendenz in jedem Menschen tiefgründig verankert ist und vor allem im persönlichen Tief in Erscheinung tritt, obgleich man Atheist oder Theist ist. Die Frage, die sich hier aber stellt, ist, ob dieses Fliehen zu dem Transzendenzglauben ein Urinstinkt des Menschen ist oder eine Folge seines sozialen Umfeldes. Wird also auch ein Mensch, der in einem Umfeld lebt, wo von keinem Gott die Rede ist, auch in Notsituationen nach Ihm suchen? Oder wird er nach etwas oder jemand anderem suchen, der Mutter zum Beispiel, die Schutz und Liebe symbolisiert? Oder das Sich-Wenden der Atheisten an einem transzendenten Schöpfer gleicht einer Win-Win-Situation, nach dem Motto: Ich glaube zwar nicht an einen Gott, aber wenn ich im Moment meines Problems an Ihm glaube, kann ich nur gewinnen, denn wenn er tatsächlich existieren sollte und ich Ihn um Hilfe bitte, würde er mir eventuell helfen. Überbrückt man dann die schwere persönliche Situation, kann dies unmittelbar danach, wie im Artikel erwähnt, als eine Schwäche aufgefasst werden.

    Ein weiterer Grund, wieso man heutzutage eine starke Wiederkehr zu Religionen beobachtet, könnte die zunehmende Vernetzung der Welt sein. Durch die wachsende Globalisierung gehen regional-spezifische Gebräuche und Religionen verloren und es entsteht eine Art allen Völkern gemeine Weltkultur. Da aber laut der Distinktivitätstheorie der Mensch sich gerne von anderen Menschen unterscheiden möchte, damit er im Mittelpunkt steht und ihm Aufmerksamkeit zuteil wird, wendet er sich den alten Gebräuchen und Religionen zu, und das in einem verstärktem Maße, um von der homogenen Struktur klar hervorzustechen.

    Mit „Wozu Religionen?“ hat der Autor sich kein leichtes Thema ausgesucht, dennoch finde ich, dass er die Aufgabe sehr gut gemeistert hat.

  • In uns ruht nicht von Anfang an implementiert, der Glaube, sondern die Angst vor dem Tod, der Selbsterhaltungstrieb, der allen Lebewesen mehr oder weniger inne wohnt. Aus dieser Angst heraus und aus dem Wunsch der ersten Menschen, die Welt um sich herum erklären zu können, sind die Religionen entstanden. Für mich gab es rein logisch zuerst, den Polytheismus und dann den Monotheismus, denn jeder Mensch oder jede Sippe hatte seine eigene Vorstellung von Gott oder anderen übergeordneten Wesen. Der Monotheismus erwies sich mit der gesellschaftlichen Weiterentwicklung der Menschen als Vorteil, ein Gott ein Kaiser, ein Volk um Menschen zu manipulieren. Echnaton ein ägyptischer Pharao hatte es schon mal probiert, mit nur einem Gott, aber das ging nicht gut aus. die menschen waren noch nicht so weit. Hinter der Führung durch einen allmächtigen Gott, den eine Gruppe beansprucht auf den aber auch eine andere Gruppe Anspruch erhebt, lässt es sich gut gegenseitig abschlachten. Einzelne ziehen daraus einen Vorteil und das ist der wahre Sinn der monotheistischen Religion, Manipulation und Gewinnstreben und der dumme Einzelne aus seiner Todesangst heraus, schließt sich dem an und läßt sich manipulieren. Wenn es einen Gott gäbe und ein Paradies, werden wir das schon sehen und Gott lässt dann auch die Atheisten nicht im Stich, warum auch !

  • Respekt für die Arbeit und den Versuch sauber zu arbeiten mit Quellen und Hinweisen. Ich finde die Seite gut und Informativ und bin froh das in Ruhe und Frieden Meinungen ausgetauscht werden können. Das finde ich sehr positiv.
    Leider finde ich die Schlüsse und Herleitungen von den vielen Zitaten sehr befremdlich und schlussendlich nicht logisch und leider nicht Objektiv.
    Ich denke auch das es wahrscheinlich ein menschliches Grundbedürfnis ist sich eine Gemeinschaft anzuschliessen und (noch) unverständliche Dinge mittels übernatürlichen Wesen/Gottheiten.. zu erklären. Gemeinsam mit dem Versuch als soziale Wesen auch lebbare Strukturen und Ordnungen zu erstellen und die Wissenslücken zu füllen lässt und wohl Religionen und Ideologien erfinden.
    Das ist der Psychologisch-Soziologische Zugang zum Thema.
    Geschichtlich wäre das neu und einzigartig das es erst den Monotheismus und dann Polytheismus gabt. Die Geschichte lehrt und etwas anderes.
    Natürlich suchen wir in Notsituationen Halt und Sicherheit und Erklärung in uns Gesellschaftlich und Kulturell gelehrten und nahen Systemen. Dass muss kein Gott sein und ist auch keine Schwäche von Atheisten sondern einfach nur menschlich und Kulturell begründet.
    Atheisten und Agnostiker sind zwei sehr Verschieden Vorstellungen.
    Sie werden im Text aber vermischt. Es ist nicht das selbe. Und Atheist schaut auf den Gläuben wahrscheinlich mit der selben im Text erwähnten Hochmut herab…wie der Gläubige auf den Ungläubigen. Das ist ein leider zutiefst menschliches Problem und bestärtkt mich nur im erkennen der Problematik von Ideologie und Religion. Sie trennt Menschen und verbindet sie nicht. Warum blendet der Text die Jahrhunderte lange und aktuelle Gewalt und Kriege zweischen Religionen und Ideologien aus?
    Ich sehe auch keine wirkliche verstärkte Rückbesinnung auf Religionen, nur erlaubt und die moderne Welt mehr Informationen und Diskussionen auszutauschen auch zwischen den Ideologien und Religionen, sodas der Eindruck entstehen könnte.
    Ich hoffe das dies die Reflektion und verständnis zwischen allen Menschen früher oder später verstärkt und sich jeder seine persönlichen Verantwortung stellt. Das heist jeder von uns hat Herz und Verstand und einen Willen bekommen. Unser Herz ist imstande uns zu sagen was richtig und falsch ist. Das braucht keine Idologie und auch keine Religion die uns nur trennt anstatt die Gemeinsamkeiten zu entdecken und uns an der Vielfalt zu erfreuen und voneinander zu profitieren.
    Staatsreligion Hedonismus? Sehr seltsam und ideologisch. Verstehe nicht ganz woher diese Behauptung kommt. In Europa gibt es die Ideologie des Kapitalismus und Geldes, was schlimm genug ist und unbedingt hinterfragt werden muss. Aber Hedonismus??
    Ich behaupte sehr das die im Artikel angeführte Kritik an den wissenschaftlichen Disziplinen eine unfassbare Verlogenheit darstellt.
    Natürlich ist auch der technische Fortschritt immer kritisch zu hinterfragen und muss sich auch an Moral und Ethik messen lassen.
    Und natürlich ist der Materealismus ein Problem. Aber im gleich darauf sich ins Auto zu setzen (Physik)…zum Artzt zu gehen um sich Krankheiten behandeln zu lassen (Medizin)..das internet zu nutzen und und und…ist eine für mich nicht nachvollziehbare logik. Maschinen erleichtern uns die arbeit und ermöglichen Versorgung vieler Menschen und natürlich auch einen gewissen Luxus. Auch Religiöse Menschen nutzen das um es im selben Atemzug zu kritisieren. (Da möchte ich gar nicht erst auf die Waffen zb eingehen).
    Das passt nicht. Jede Ideologie und Religion hat iher schwächen und Probleme. Ich denke es ist die Aufgabe der Philosophie sich damit zu beschäftigen damit wir lernen endlich mal ohne Kriege und Hass und gegenseitigen unverständnis und Ausbeutung auszukommen.
    Was jeder glaubt ist doch nicht wichtig schlussendlich. Es ist wichtig für jeden einzelnen aber für Frieden und wohlverhalten der Menschen nicht.
    Und zum Thema Werteverfall…welche Werte verfallen genau? Ich halte den relativen Frieden in Europa für einen Grossen Wert. Der versuch das alle friedlich und ohne Ausgrenzung und Verachtung andere leben können ist ein grosser Wert. Ich wünsche mir die Werte der Todesstrafe, Folter, Kriege, jeden einzusperren, auszubeuten oder zu töten der nicht meinen Vorstellungen entspricht, oder dessen Resourcen ich grad brauche für keinen erhaltenswerten Wert.
    Oder sehe ich da etwas falsch?

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