Al-Qadar- Die Prädestinationslehre im Islam

I. Einleitung

Sicherlich gibt es nach wie vor zahlreiche Themen im Islam, wo sich die Ansichten und Meinungen der Gelehrten auch nach etwa 1200 Jahren diametral entgegen stehen. Ohne Zweifel gehört das Thema „Qadar“ (wörtlich Maß) zu dem weiterhin ungelösten Themenfeldern im Islam, weshalb heute noch darüber die Gemüter erheblich erhitzt werden. Für viele Beobachter der islamischen Welt, soll die Prädestinationslehre (dschabr) die eigentliche Ursache sowohl für die technologische Unterentwicklung1 als auch für die wirtschaftliche Stagnation grundlegend verantwortlich sein.2 Kurzum: Der Glaube an al-Qadar soll die Passivität innerhalb der Muslime befördert und infolgedessen für ihr verantwortungsloses Handeln Vorschub geleistet haben.3

Neben den bekannten fünf Säulen des Islam, wird in den islamischen Ilmihal-Büchern (arab. Ilm al-Hal) die Säulen des Glaubens (arkan al-iman) beschrieben. Danach gehören diese Säulen schlechthin zu den unabdingbaren Voraussetzungen für den Glaubensbestandteil eines jeden Gläubigen. Allerdings fällt beim näheren Hinsehen jedoch auf, dass der sechste Punkt der Glaubenslehre „der Glaube an al-Qadar“4 als Ausgangspunkt zur Irritation von nicht wenigen Gläubigen darzustellen scheint. Was bedeutet eigentlich „al-Qadar“ für den Muslim? Ist darunter ein unwiderruflicher Fatalismus zu verstehen? Kann dann überhaupt noch von einer Willens- bzw. Handlungsfreiheit des Menschen im Islam gesprochen werden?

II. Der Ursprung von Fatalismus im Islam

Der Terminus al-Qadar bedeutet im lexikalischen Sinne, etwas Bestimmen und Festsetzen. Im religiösen Kontext soll es im Grunde nichts anderes bedeuten, als dass Allāh seit Anbeginn der Zeit, die Geschehnisse bis in die Ewigkeit hinein im Vorwissen kennt und den Verlauf der Dinge eingreifend bestimmt.5

Es steht außer Frage, dass der Prädestinationslehre (lat. praedestinare/vorherbestimmen) in sämtlichen Weltreligionen eine herausragende Bedeutung zukommt. Besonders in den monotheistischen Religionen wurden unzählige kontroverse Abhandlungen darüber geführt, dessen verschiedene Deutungen die Theologen entzweit hat, nicht bloß außerhalb, sondern auch innerhalb der eigenen Konfessionen.6 Es war kein geringerer als Paulus von Tarsus (gest. ca. 60) gewesen7, der den theologischen Grundsatz für die Vorherbestimmung (Prädestination) in das Christentum ein für allemal einführte. Im Brief von Paulus an die Römer geht die fatalistische Grundannahme ohne weiteres hervor:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht […]“.8

Selbst der Begründer des Protestantismus Martin Luther (1483-1546) sprach von der uneingeschränkten Prädestination Gottes. Nach Luther würde der freie Wille des Menschen unweigerlich die Souveränität Gottes enorm einschränken und deshalb einer Blasphemie gleichkommen. Frappierend lastet Luther auch die Ursache des Bösen mit all seinen Erscheinungsformen an die Vorherbestimmung Gottes zu: „Daher müssen wir zum Äußersten gehen, den freien Willen ganz negieren und alles Gott zuschreiben“.9

Den islamischen Primärquellen zufolge stellt die Paulinische Prädestinationslehre keineswegs ein Fremdwort dar, da sie vorwiegenderweise in den Aqīda Werken (Ilm al-Aqīda) der Ahlu Sunna ausführlich belegt ist. Das älteste und bis heute tradierte Werk über die Aqīda, ist gewiss das Werk „al-Fiqh al-Akbar“ von Abū Hanīfa (gest. 767). Sie gilt nach wie vor als das Fundament in der Glaubenslehre der Ahlu Sunna. Direkt zu Beginn in seiner Abhandlung über die Grundlage des Tauhīd, beschreibt Abū Hanīfa die grundlegenden Glaubensinhalte in seiner Reihenfolge wie folgt zusammen:

Man muss sagen: „Ich verinnerliche Imān an Allāh, Seine Engel und Seine Bücher, an die Gesandten und die Auferstehung nach dem Tode. Al-Qadar (die Bestimmung), sei sie gut oder böse, ist von Allāh […]“.10

Die oben zitierten sechs Glaubensartikeln sind ferner auch in den wichtigsten sunnitischen Hadith-Sammlungen überliefert worden.11

Der Rechtsgelehrte an-Nawawī (1233-1277) kommentiert zu al-Qadar folgendes:

Die Bedeutung vom Qadar bei den Vertretern der Wahrheit ist, dass Allah die Sachen in der Urewigkeit bestimmt hat, und Er wusste, dass sie in bestimmten Zeiten, nach bestimmten Maßen geschehen werden“.12

Im selben Werk bekräftigt Abū Hanīfa nochmals die Prädestinationslehre mit dem Satz:

Nichts passiert im Diesseits oder im Jenseits außer mit SEINEM Willen, Wissen, Bestimmung und Entscheidung“.13

Hinzukommend versichern diverse Hadithe nochmals mit Nachdruck die Authentizität von al-Qadar:

Der Prophet sagte: „Allah hat die Vorherbestimmungen von allen Geschöpfen aufgeschrieben 50.000 Jahre bevor Er die Himmel und die Erde erschuf[…]“.14

In einer weiteren Überlieferung heißt es:

Der Prophet sagte: „Und wenn dich etwas trifft, dann sag nicht: Hätte ich es so gemacht, wäre es so und so. Sondern sag: Allāh hat es vorbestimmt und Er macht, was er will“.15

Der ehemalige Präsident des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten Ömer Nasuhi Bilmen (1883-1971), schreibt in seinem Ilm al-Hal (türk. Ilmihal) dazu:

Diese (sechs Glaubensartikel) sind fundierte Voraussetzungen und werden deshalb auch als Grundprinzipien bezeichnet, an die man unbedingt glauben muss. Jeder Muslim ist verpflichtet, daran zu glauben“.16

Desgleichen bekundet der Autor Dr. Ahmad A. Reidegeld in seinem umfangreichen Buch über die Glaubens- und Rechtslehre den besonderen Stellenwert der überlieferten sechs Glaubensartikel, infolgedessen die Leugnung der Vorherbestimmung unverhohlen mit dem Unglauben gleichgesetzt wird:

Es ist Pflicht, daran zu glauben, dass es eine Vorherbestimmung (bestimmter Dinge) gibt. Wer eine jegliche Vorherbestimmung leugnet, der muss als ungläubig (Kāfir) betrachtet werden“.17

Auch in dem ersten veröffentlichten Fachbuch im deutschsprachigen Raum über die Glaubensinhalte der „al-Aqida“18 beschreibt sein Verfasser Dr. Amir Zaidan den Zustand der Menschen, die nicht an einem der sechs Glaubensgrundsätze (wie z.B. al-Qadar) der Aqida glauben, als jene – auch wenn sie mithin die Scharia und den Achlaq praktizieren würden – sie demnach konsequenterweise nicht mehr als Muslime zu betrachten seien und sich deshalb dezidiert außerhalb des Islams bewegen würden. Hiernach wären ihre diesseitigen Taten aus der Perspektive der Religion (Din), unzweifelhaft als wertlos zu einzustufen.19

Interessanterweise bemerkt ibn Qutaiba (828-889) hinsichtlich zu al-Qadar an, dass unter den Muslimen der erste, der sich über dieses Thema äußerte, Ma´bad ibn Khalid al-Juhani (641-702 [?]) aus Basra war.20

Noch verblüffender scheint die Ansicht zu sein, dass al-Juhani das Thema um die Prädestinationslehre von einem Christen erlernt und verbreitet habe. Deshalb dürfe der christliche Einfluss nach – den muslimischen Kritikern der Prädestinationslehre – nicht im geringsten ausser Acht gelassen werden.21 In diesem Zusammenhang soll vorbehaltlos von Nichtmuslimen die skrupellose Intention ausgegangen sein, um jeden Preis die Aqīda der Muslime mit destruktiven Lehrinhalten zu infizieren.22

Bekanntermaßen konstituierte sich in diesem Kontext die Glaubensschule (Kalām) der Dschabriyya, wobei sie tatkräftig in allen Kontroversen und Diskrepanzen offensiv die Sichtweise vertraten, der zufolge die Menschen aufgrund ihrer Beschaffenheit, keinen freien Willen besitzen und noch hinzukommend willkürlich von Allah zu allen Taten schicksalhaft gezwungen wären.23

Wie dem auch sei, habe sich das Verständnis von al-Qadar möglicherweise erst durch die Schrift des Rechtsgelehrten Abū Hanīfa erfolgreich in der Bandbreite der Ahlu Sunna durchsetzen und verbreiten können. Andererseits hatten in der Vergangenheit nicht wenige Gelehrte die Meinung vertreten, dass es unmöglich sei, das Abū Hanīfa diese Prädestinationslehre von al-Qadar vertreten haben könnte, weil sein Werk „al-Fiqh al-Akbar“ nicht lückenlos bis zu ihm erschlossen werden konnte. Darüber hinaus tendierten eine Reihe von Gelehrten sogar zu der Meinung, dass nicht Abū Hanīfa, sondern der bekannteste sunnitische Hadith-Sammler al-Bukhārī (810-870) der eigentlich Autor von al-Fiqh al-Akbar sei.24 Wiederum hielten auch nicht wenige Gelehrten Abū Mutī al-Balhī für den ursprünglichen Verfasser von Fiqh al-Akbar.25

Der wohl renommierteste Biograph von Abū Hanīfa Prof. Muhammad Abū Zahra (1898-1974), untersuchte jahrzehntelang eingehend in seiner Studie danach, ob das Werk al-Fiqh al-Akbar tatsächlich von der Feder von Abū Hanifa stammen könnte. Schließlich verlautbarte Abū Zahra die folgende Schlussfolgerung:

Wir finden in al-Fiqhu´l-Akbar manche Themen, die in seiner Zeit und vor seinen Lebzeiten nicht thematisiert wurden. In keiner der Quellen, die uns vorliegen, finden wir vor, dass einer seiner Zeitgenossen oder jemand von denen, die vor ihm gelebt haben, versucht hat, den Unterschied zwischen Mu´jizah, Karāma und Istidrāj zu erklären. Jedoch steht in al-Fiqhu´l-Akbar folgendes geschrieben: Die Mu´jizah der Propheten und die Karāmat der Auliyā sind wahr […]“.26

Aufgrund dieser außergewöhnlichen Feststellung von Abū Zahra – die in Vergangenheit auch von anderen Gelehrten öffentlich angezweifelt wurden – sei es im Grunde nicht glaubhaft genug, das Werk ausschließlich in die ideologische Denkweise von Abū Hanifa zu rücken.

III. Iblis der erste Fatalist in der Geschichte?

(1) Der Qur´ān beschreibt in diversen Suren eingehend die Geschichte von Adam und seinem erbittertesten Widersacher Iblis, indem der Antagonismus zwischen beiden umständlich referiert wird. Unmissverständlich wird auch beschrieben, aus welchem grundlegenden Motiv die Schöpfung Adams von Iblis nicht geachtet, ja geradezu im heutigen Terminus als Staatsfeind Nr. 1 charakterisiert wurde. Noch augenfälliger scheint der Vorwurf von Iblis an Allāh zu sein, demzufolge nicht er selbst für seinen eigenen Ungehorsam verantwortlich sei, sondern beschuldigt und verschiebt groteskerweise Allāh die Schuld für sein Vergehen zu:

Und wahrlich, Wir erschufen euch und formten euch dann. Dann sprachen Wir zu den Engeln: „Werft euch vor Adam nieder!“ Und sie warfen sich nieder, außer Iblis. Er war nicht bei denen, die sich niederwarfen. Er (Allāh) sprach: „Was hinderte dich, dich niederzuwerfen, als Ich es dir befahl?“ Er (Iblis) sagte: „Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber erschufst Du aus Ton“. Er (Allah) sprach: „Weg und hinab mit dir! Es geziemt dir nicht, hier hochmütig zu sein. Darum hinaus mit dir, siehe, du bist einer der Gedemütigten“. Er (Iblis) sagte: „Gib mir eine Frist bis zum Tag der Auferstehung“. Er (Allāh) sprach: „Fürwar, die Frist ist dir gewährt“. Er (Iblis) sagte: „Wie Du mich in die Irre gehen ließest, werde ich ihnen auf Deinem geraden Weg auflauern“ (al-A´raf, 11-16).

Die Polytheisten um den Propheten Muhammad schienen die gleiche Schuldzuweisung von Iblis offenkundig gepachtet zu haben. Deterministisch behaupteten sie im Angesicht des Propheten, dass sie an seine Botschaft gerne geglaubt hätten, wenn es nur Allāh für sie bestimmt hätte. Überdies erfahren wir durch den folgenden Qur´ānvers eine wesentliche Information, demnach selbst ihre Vorfahren in der selben Weise auch deterministisch gestimmt waren:

Gewiss, die, welche (Allāh) Gefährten geben, werden sagen: „Wenn Allāh es gewollt hätte, hätten wir Ihm keine Gefährten gegeben, wie auch unsere Väter nicht; und wir hätten auch nichts (Erlaubtes) verboten“. So leugneten auch die, welche vor ihnen lebten, bis sie Unsere Strenge zu fühlen bekamen. Sprich: „Wisst ihr etwas darüber, dann bringt es uns zum Vorschein. Ihr folgt nur einem Wahn, und ihr lügt nur“ (al-An´am, 148).

Scheinbar bestätigen sämtliche Qur´ānverse auf den ersten Blick die Haltung zur Prädestinationslehre zugunsten der Polytheisten:

Und keinem…wird sein Leben verlängert noch…verringert, ohne dass es in einem Buch stünde(al-Fatir, 11).

Und wen Allāh leitet, der ist der Rechtgeleitete. Und wen Er irregehen lässt – nimmer findest du Helfer für sie außer Ihm“ (al-Isra, 97).

Und wenn dich Allāh mit einem Übel trifft, gibt es niemand, der es beseitigen könnte, außer Ihm. Und wenn Er Gutes für dich vorsieht, kann niemand Seine Wohltat aufhalten“ (Yunus, 107).

Du kannst gewiss nicht jeden rechtleiten, den du liebst, sondern Allāh leitet recht, wen Er will. Und Er kennt am besten diejenigen, welche sich rechtleiten lassen“ (al-Qasas, 56).

Wer die oben zitierten Textpassagen nicht im Gesamtzusammenhang liest, wird willkürlich an eine deterministische Glaubensvorstellung festhalten müssen. Es ist insoweit nicht zu übersehen, dass der Qur´ān kein Buch ist, dass sich dem Leser auf Anhieb leicht erschließt. Zumal das Heilige Buch eine inhärente Kenntnis der Schrift voraussetzt. In diesem Sinne versichert der Qur´ān sein eigener bester Kommentator zu sein, indem er eine Methodologie zu seinem Verständnis nachdrücklich konstatiert:

Ein Buch, dessen Verse vervollkommnet und dann im einzelnen erklärt worden sind, von einem Allweisen, Allkundigen“ (Hud, 1).

Deshalb ist der Qur´ān keine Schrift, die selektiv und entgegen dem Kontext verstanden werden kann.27 Darüber hinaus enthält der Qur´ān ebenso zahlreiche Textpassagen, die ausdrücklich das Gegenteil einer Prädestinationslehre nahe legen. Danach obliegt es ganz allein dem Menschen selbst, über sein eigenes Schicksal eigenhändig zu bestimmen:

Und was immer euch an Unglück trifft, es ist für das, was eure Hände erworben haben (asch-Schura, 30).

Und siehe, wenn Wir den Menschen von Uns Barmherzigkeit kosten lassen, ist er froh darüber. Wenn sie aber etwas Böses trifft für das, was ihre Hände vorausgeschickt haben, gewiss, dann ist der Mensch sehr undankbar(asch-Schura, 48).

Gewiss, Allāh verändert die Lage eines Volkes nicht, solange sie sich nicht selbst innerlich verändert (ar-Ra´d, 11).

Siehe, Wir boten die Verantwortung (für Ausübung von freiem Willen und Vernunft) den Himmeln und der Erde und den Bergen an, doch weigerten sie sich, sie zu tragen, und schreckten davor zurück. Der Mensch lud sie sich jedoch auf (al-Ahzab, 72).

Und dass der Mensch nur empfangen wird, worum er sich bemüht“ (an-Nadschm, 39).

Dies, weil Allāh Seine Gnade, mit der Er ein Volk begnadet, nicht ändert, es sei denn, dass es seine innere Einstellung ändert“ (al-Anfal, 53).

(2) Gleichwohl irritiert erfahrungsgemäß der nachfolgende Qur´ānvers viele Leser beim Einstieg in die Lektüre des Qur´ān, die insbesondere damit neu vertraut sind:

Siehe, den Ungläubigen ist es gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst: sie glauben nicht. Versiegelt hat Allāh ihre Herzen und Ohren, und über ihre Augen liegt eine Hülle, und für sie ist schwere Strafe bestimmt“ (al-Baqara, 6-7).

Selektiv und wörtlich genommen sagt der Vers eigentlich nichts anderes aus, als dass es Allāh selbst ist, der die Herzen und die Ohren der Nichtgläubigen versiegelt, damit sie unter keinen Umständen zu glauben trachten. Allerdings gilt auch hier die Regel, die Gesamtheit des ganzen Buches zu berücksichtigen.28 Denn der Vers „Versiegelt hat Allāh ihre Herzen und Ohren“ bekommt durch einen anderen erläuternden Vers, eine ganz andere Qualität und Bedeutung hinzu:

Ein Buch, dessen Verse als Qur´ān in arabischer Sprache für Leute von Wissen erklärt worden sind. Ein Bringer froher Botschaft und Warner. Doch die meisten von ihnen wenden sich ab und hören nicht. Und sie sagen: „Unsere Herzen sind vor dem , wozu du uns aufrust, verhüllt, und in unseren Ohren ist Taubheit, und zwischen uns und dir ist ein Vorhang[…]“ (Fussilat, 5).

Es waren nämlich die arabischen Polytheisten selbst gewesen, die sarkastisch von sich behaupteten, aufgrund ihrer symbolischen Blind- und Taubheit nicht empfänglich für die qur´ānische Botschaft zu sein. Demnach war eine konkrete und bewusste Ablehnung des Islams von Seiten der Polytheisten vorausgegangen. Deshalb kann hier nicht im geringsten die Rede davon sein, dass Allāh eigenmächtig die Menschen zu Taub- und Blindheit sanktioniert habe, damit sie ja nicht an seine Mitteilung glauben dürfen. Im Gegenteil. Allāh will, dass alle Menschen an Seine Botschaft glauben:

Wenn ihr undankbar seid, seht Allāh bedarf euer nicht. Und Er findet kein Wohlgefallen am Unglauben Seiner Diener. Doch wenn ihr Ihm dankbar seid, findet Er Gefallen an euch […]“ (az-Zumar, 7).

Jedenfalls gibt es nachträglich angeworbene negative Charaktereigenschaften wie einen „falschen Stolz“ zu besitzen, oder „gewalttätig“, „dem Neid“ und dem „Hedonismus“ verfallen zu sein. Wer diese Eigenschaften zu seinem weltanschaulichen Lebensprinzip erklärt, wird durch sein Selbstverschulden nicht mehr in der Lage sein, die authentische und reine Botschaft vernehmen zu können. Unmerklich wird dadurch die Fähigkeit verloren gehen, „die Wahrheit wahrzunehmen, so dass schließlich gleichsam ein Siegel auf sein Herz gesetzt wird“.29 Dies geht unter anderem aus den folgenden Versen hervor:

Diejenigen, welche ohne jeden Beweis Allāhs Zeichen bestreiten, erregen Abscheu bei Āllah und bei den Gläubigen. Und so versiegelt Allāh das Herz eines jeden Stolzen, Gewalttätigen“ (Ghafir, 35).

Und weil sie ihr Versprechen brachen und Allāhs Zeichen verleugneten und die Propheten ungerechterweise töteten und sprachen: „Unsere Herzen sind Gefäße (des Wissens)“ , Allāh hat ihre Herzen im Gegenteil wegen ihres Unglaubens versiegelt, so dass nur wenige glauben“ (an-Nisa, 155).

Im Übrigen schien bei den Polytheisten ein weiteres besonderes Merkmal zu sein, unkritisch nur an das festzuhalten, was ihre Väter ihnen an Glauben tradiert hatten. Somit war das einzige Kriterium für die Gültigkeit ihrer Religion (arab. Din), die übernommene Glaubenspraktiken ihrer Vorväter unter allen Umständen nachzuahmen bzw. weiter zu führen (arab. taqlid)30:

Und wenn man zu ihnen spricht : „Befolgt, was Allāh herabgesandt hat,“ sprechen sie: „Nein, wir befolgen, was wir bei unseren Vätern vorfanden“. Wie? Obgleich ihre Väter nichts wussten und nicht geleitet waren? […]“ (al-Baqara, 170).

Der zweite Kalif Umar ibn al-Chattāb (579-644) verpasste dieser überkommenen polytheistischen Glaubensvorstellung von al-Qadar einen lehrreichen Denkzettel, um ein für allemal Abschied von dieser deterministischen Implementierung von Iblis zu signalisieren:

Es wird berichtet, dass man einst einen Dieb zu Umar (ra) brachte, den man gefangen hatte. Umar (ra) fragte ihn: „Warum hast du gestohlen?“ Dieser antwortete: „Wenn ich gestohlen habe, dann habe ich dies durch die Bestimmung Allāhs getan. Allāh hat es so bestimmt.“ Umar sagte nichts und gab lediglich den Befehl, ihm die Hand abzuhacken und ihn zu schlagen. Da wurde er gefragt, warum er zwei Strafen verhängte. Da antwortete er: „Die Hand wurde aufgrund des Diebstahls abgehackt und die Schläge bekam er wegen seiner Lüge und Verleumdung bezüglich Allāh“.31

IV. Die sechs Glaubensgrundsätze aus einem anderen Blickwinkel betrachtet

(1) Zunächst einmal ist es vonnöten, die Begriffsbestimmung von al-Qadar gewissermaßen richtig einzuordnen. Gewiss gab es in der Frühzeit des Islam allerhand verschiedene theologische Richtungen, die einen außergewöhnlichen Einfluss auf ihre Anhänger ausübten. Die Dschabrianer [von Dschabr/Zwang] leugneten -wie oben bereits dargelegt- den freien Willen des Menschen und vertraten zudem noch die Sichtweise, dass alles bis ins kleinste Detail von Allāh vorausbestimmt sei.32 Anzumerken wäre an dieser Stelle die verblüffende Affinität zu der Aussage von Iblis, da dieser die Verantwortung für seine eigene Untat, schamlos und apodiktisch an Allāh zuschrieb:

Er (Iblis) sagte: „Wie Du mich in die Irre gehen ließest, werde ich ihnen auf Deinem geraden Weg auflauern“ (al-A´raf, 11-16).

Den Dschabrianer zufolge würden alle kausalen Zusammenhänge ausnahmslos von der aktiven Bestimmung Allāhs ausgehen. Zur Beweisführung stützten sie sich vor allem auf den folgenden Qur´ānvers: „[…] Allāh macht gewiss, was ER will“ (al-Hadsch, 14).33

Insofern fordert deshalb Amir Zaidan vordergründig dazu auf, die Begriffsbestimmung regelrecht neu zu verorten. Denn, die im deutschsprachigen Raum verwendeten Vokabeln, können nicht ohne weiteres „als Synonyme für die islamischen Fachbegriffe“ übernommen werden. Begriffe wie Schicksal und Fatalismus, würden schlussendlich dem Begriffsinhalt der islamischen Terminologie nicht bei weitem dem wahren Sinngehalt gerecht werden.34

Danach sei die aussichtslose Interpretation von al-Qadar in jeder Beziehung verfehlt worden, weil weiterhin davon ausgegangen wird, dass alles den schicksalhaften Vorgängen unterworfen sei. In der Tat gibt es Geschehnisse, die sich außerhalb des menschlichen Willens ereignen, die nicht zu bestreiten sind. Sheikh Osman Nuri Topbas bemerkt deshalb einleuchtend dazu:

Geburt, Tod, Wiederauferstehung, Schlaf, Hunger, unsere physische Struktur, unsere Lebensspanne und ähnliche Dinge sind allesamt Teil der zwingend notwendigen und unausweichlichen Dimension göttlicher Bestimmung. Diese Ereignisse und Handlungen werden auch „Qadru mutlaq“, absolute Bestimmung genannt, und menschliche Wesen werden nicht für diese Art von unausweichlichen Geschehnissen zur Verantwortung gezogen“.35

Logischerweise ist der Glaube an die Vorhersehung nur damit beinhaltet, dass Allāh in seinem Vorauswissen „über alles Zukünftige und dessen Verwirklichung bei gleichzeitiger Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen“36 kennt:

Siehe, Allāh kennt alle Dinge“ (at-Tauba, 114).

Deinem Herrn bleibt auch nicht das Gewicht eines Stäubchens auf Erden und im Himmel verborgen. Und nichts ist kleiner oder größer als dies, ohne dass es in einem Buch klar verzeichnet stünde“ (Yunus, 61).

Und bei Ihm [Allāh] sind die Schlüssel des Verborgenen; Er allein kennt es. Er weiß, was zu Land und im Meer ist, und kein Blatt fällt nieder, ohne dass Er es weiß. Und kein Körnchen gibt es in den Finsternissen der Erde und nichts Grünes und nichts Dürres, das nicht in einem deutlichen Buch stünde“ (al-Anam, 59).

Diese Qur´ānverse verdeutlichen im Prinzip, dass Allāh allwissend ist und sich im Grunde nichts außerhalb seiner Souveränität bewegen kann. Somit kennt Er alle zukünftigen Ereignisse schon seit ihrer Schöpfung, da Er selbst der Schöpfer von Raum und Zeit ist. Zugegeben lassen sich nicht alle Menschen mit dieser Feststellung zufrieden geben. Wie kann es denn überhaupt sein, dass Er schon vorher weiß, was in Zukunft eintreffen wird und dann doch nicht in die Vorgänge interveniert? Wenn Er die Abläufe bis ins kleinste Detail kennt, müsste Er ja schließlich auch das Schicksal der Menschen fatalistisch bestimmen. An dieser Stelle kann man genau so gut eine Gegenfrage stellen: Weshalb muss ein Vorwissen zugleich auch bedeuten, in das Schicksal des Menschen repressiv einzugreifen? Wohlmöglich mag es in erster Linie daran liegen, dass die Menschen Allāh vorwiegend aus der Perspektive menschlicher Denkkategorien wahrnehmen. Obwohl der Qur´ān sehr oft den Menschen präventiv daran erinnert, keine Vergleiche mit Ihm anzustellen:

Nichts ist Ihm gleich[asch-Schura, 11], bleibt weiterhin die Versuchung bestehen, sich nicht ganz davon befreien zu können, menschliche Gedanken in Allāh hineinzuprojizieren. Immerhin warnte der Prophet des Islam schon noch zu Lebenszeit seine Gefährten eindringlich davor, sich den Kopf über al-Qadar nicht zu zerbrechen.37 In einer Überlieferung von Abū Hurayra wird folgendes hierzu tradiert:

Der Gesandte Allāhs kam zu uns, als wir über (die Natur von) Allāhs Ratschluss debattierten. Er war ärgerlich, und sein Gesicht wurde so rot, dass es aussah, als sei ein Granatapfel auf seinen Wangen geplatzt. Er sagte: „Ist es das, was zu tun euch befohlen ist, oder bin ich etwa für so etwas zu euch gesandt worden? Eure Vorgänger sind nur zugrunde gegangen, wenn sie Fragen über diese Sache gestellt haben. Ich warne euch, ich warne euch davor, debattiert nicht darüber!“.38

Generell riet der Prophet seine Anhänger dazu auf, nicht in haarspalterisch- theologischen Spekulationen zu verfallen.39

Auch außerhalb der Theologie wird das Thema um den freien Willen in der Gegenwart kontrovers debattiert. Etwas zurückhaltender in dieser Sache ist jedenfalls der Verhaltensneurobiologe Prof. Niels Birbaumer. Sein beruflicher Gegenstand erlaube ihm derzeit noch nicht, etwas konkretes über den freien oder unfreien Willen im Rahmen der Wissenschaft auszusagen:

Weder freier noch unfreier Wille läßt sich beobachten, da wir kein neuronales Korrelat von Freiheit kennen. Freiheit ist zwar auch ein Konstrukt des Gehirns wie alles Verhalten und Denken, das der Mensch produziert, aber es ist auch und primär ein historisch, politisch und sozial gewachsenes Phänomen, das sich nicht nur auf Hirnprozesse zurückführen lässt“.40

Die Angelegenheit um die Geheimnisse der Bestimmung [al-qadar] scheint daher komplexer zu sein, als es bislang angenommen worden ist. Nicht unerwartet setzte sich in der Frühzeit der wahrscheinlich wichtigste Autor -nach der Abū Hanifa zugeschriebenen Schrift Fiqh al-Akbar- der Ahl al-Sunna wal-Jamā über die Aqīda, Imam Abū Ja´far al-Tahāwī (853-933) sich gründlich mit den Glaubensgrundlagen auseinander. Sein Werk „Al-´Aqīda Al-Tahāwiyya“ gilt bis heute als Standardwerk zur Glaubenslehre der Sunniten. Den Rat des Propheten folgend, erinnerte er ebenso die Gläubigen daran, sich nicht zu sehr mit den Details zu beschäftigen. Unnötiges Spekulieren würde nichts weiter bedeuten, das höhere Ziel fundamental aus dem Augenmerk zu verlieren:

Das genaue Wesen der Bestimmung [al-Qadar] ist Allāhs Geheimnis in Seiner Schöpfung, keinem (Ihm) nahestehenden Engel und keinem entsandten Propheten wurde Wissen darüber verliehen. Der Versuch, darin vorzudringen und das Nachgrübeln über dieses Thema bedeuten Untergang und Verlust und führen zur Rebellion. Darum sei vorsichtig und hüte dich davor, über diese Angelegenheit zu spekulieren oder nachzugrübeln oder dich von Einflüsterungen beeinflussen zu lassen. Und wahrlich, Allāh der All-Erhabene hat das Wissen über die Bestimmung vor Seinen Geschöpfen verborgen und ihnen untersagt, Nachforschungen darüber anzustellen, so wie der All-Erhabene es in Seinem Buch zum Ausdruck bringt: {Er wird nicht nach Seinem Tun befragt, sie jedoch werden befragt werden}.41 Wer also fragt: „Warum hat Er das getan?“ widerspricht damit einem Grundsatz [hukum] des Buches Allāhs und wer einem Grundsatz des Buches Allāhs des All-Erhabenen widerspricht, zählt zu den Ungläubigen“.42

(2) Als damals im Jahr 1960 Prof. Hüseyin Atay noch am Anfang seiner Dissertation „Die Glaubenslehre nach dem Qur´ān und seine Festlegung und Verteidigung“ stand, konnte er noch nicht erahnen, auf was er kurze Zeit später stoßen würde. Zu guter Letzt fand er im Studium zu seiner Doktorarbeit das vor über 900 Jahren geschriebene Werk „Tabsiratu´l –Edille“ von dem bekannten Theologen Abu’l-Muin an-Nasafi (gest.1115), der als Grundstein des Hanafi-Maturidi Erbgutes gezählt wird.43 Nach eingehender Lektüre war er sehr darüber verwundert gewesen, dass an-Nasafi unkonventioneller Weise anstatt die sechs Glaubensartikel mit al-Qadar zu zitieren, nur die ersten fünf als Glaubensgrundlage aufführte:

  • Der Glaube an Allāh

  • Der Glaube an die Engel

  • Der Glaube an die geoffenbarten Bücher

  • Der Glaube an die Propheten

  • Und zuletzt der Glaube an das Jenseits

Die islamischen Quellen erwähnen in diesem Zusammenhang noch ältere Quellen als die von an-Nasafi, die ebenfalls nur die ersten fünf Glaubenslehren für konstitutiv erachteten. Das wohl bekannteste Werk ist ohne Zweifel das Sendschreiben von Hasan al-Basrī (642-728) an den Omayyadischen Kalifen Abd al-Malik (646-705)44, das 1933 von dem deutschen Orientalisten Prof. Hellmut Ritter (1892-1971) editiert und herausgegeben wurde.45 In dem Sendschreiben an den Kalifen gewendet, schreibt Hasan al-Basrī als Antwort auf die Frage nach al-Qadar eindringlich und bezugnehmend auf den Qur´ān, dass der Mensch für seine Taten selbst verantwortlich ist und sie nicht in die Verantwortung Allāhs ungebührlich angelastet werden kann.46 Nach dem Massaker in Kerbala an die Familie des Propheten, hatten die Omayyaden vorrangig um ihre Legitimität zu kämpfen. Die überwiegende Mehrheit der Gläubigen Muslime, waren über die Untat von Yazid I. (644-683) an dem Enkelsohn des Propheten Hussain ibn Ali (626-680) sehr entsetzt gewesen. Um ihre politische Legitimität aufrecht zu erhalten, versuchten sie hastig die Glaubensschule der Dschabriyya (Fatalisten) als Doktrin in weiten Teilen der Bevölkerung ideologisch durchzusetzten.47 Nachdem Yazid seinem Gouverneur die Anordnung zum Exekutieren gab, wurden insgesamt mit einschließlich Hussain, 73 Gefährten und Familienangehörige des Propheten auf die brutalste Art und Weise niedergemetzelt. Um seine Schandtat rechtfertigen zu können, übernahm Yazid die Taktik von Iblis bzw. das Qadar Verständnis der arabischen Polytheisten auf, um jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Unmittelbar nach der Ermordung fand in seinem Palast ein Dialog zwischen ihm und der überlebenden jüngeren Schwester von Hussain, Zaynab binte Ali (625-682) statt:

(Yazid): Siehst Du, in welchen Zustand Allāh deinen Ahl-ul-Bait (Leute des Hauses) gebracht hat?“ (Zaynab): „Wie konntest Du ihnen das nur antun?“ Woraufhin Yazid antwortete: „Allāh hat sie (die Familienangehörigen des Propheten) getötet“.48

Desweiteren schildert der namhafte Geschichtsschreiber Abū Dschaʿfar Muhammad ibn Dscharīr at-Tabarī (839-923) bis ins kleinste Detail um die Tragödie nach den Ereignissen von Kerbala:

Als man letzten Endes Yazid in einem Silbertablett den abgeschlagenen Kopf von Hussain vorgelegt hatte und er ihn anschließend mit seinem Rohrstock an die Lippen schlug, dröhnte Abū Barira al-Aslami, der zugegen war: „Nimm deinen Rohrstock weg, denn bei Allāh, außer dem es keinen Gott gibt, ich habe die Lippen von Allāhs Gesandtem zahllose Male diese Lippen küssen sehen“.49

Der pakistanische Dichter und Philosoph Dr. Muhammad Iqbal (gest. 1938), greift die Tragödie um Hussain in Kerbala auf und spannt den Bogen bis in die Gegenwart hinein. Hernach lässt sich der fatalistische Glaube für sämtliche politische Interessen der Machthaber, subtil und ungebührlich instrumentalisieren:

Nun benötigte der praktische Materialismus der opportunistischen Omayyaden-Herrscher von Damaskus einen Aufhänger für ihre Untaten bei Kerbala, und um sich die Früchte vom Amir Mu´awiyas Revolte gegen die Möglichkeiten eines Volksaufstandes zu sichern. Ma´bad soll zu Hassan von Basra gesagt haben, dass die Omayyaden Muslime töteten und ihre Taten dem Ratschluss Gottes zugeschrieben hatten.“Diese Feinde Gottes“, erwiderte Hassan, „sind Lügner.“ So entstand trotz offenen Protests von Seiten der muslimischen Geistlichkeit ein moralisch herabwürdigender Fatalismus und die begründende Theorie, die als „vollendete Tatsache“ bekannt ist, um bestehende Ansprüche zu stützen. Dies ist nicht im Geringsten überraschend. Auch heutzutage haben Philosophen eine Art intellektuelle Rechtfertigung für die letztliche Gültigkeit der gegenwärtigen kapitalistischen Struktur der Gesellschaft zusammengezimmert“.50

(3) Allerdings weisen bezugnehmend auf das Sendschreiben von Hasan al-Basrī und dem Qur´ān nicht wenige Gelehrte daraufhin, dass die in der Überlieferung vorkommender sechster Glaubensartikel „al-Qadar“ nicht in der üblichen Reihenfolge von der Heiligen Schrift erwähnt wird. Hiernach würde der Qur´ān eine deutliche Sprache sprechen und keinen Raum für spekulative Glaubensinhalte bieten:

O ihr, die ihr glaubt! Glaubt an Allah und Seinem Gesandten und an das Buch, das Er auf Seinen Gesandten herabgesandt hat, und die Schrift, die Er zuvor herabkommen ließ. Wer nicht an Allah und Seine Engel und Seine Bücher und Seine Gesandten und an den Jüngsten Tag glaubt, der ist weit abgeirrt“ (an-Nisa, 136).

Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Westen oder Osten kehrt. Fromm ist vielmehr, wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und an die Engel und die Schrift und die Propheten […] (al-Baqara, 177).

Der Gesandte (Gottes) glaubt an das, was zu ihm von seinem Herrn (als Offenbarung) herabgesandt worden ist, und ebenso die Gläubigen; alle glauben an Gott, Seine Engel, Seine Bücher und Seine Gesandten – Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von Seinen Gesandten. Und zu Dir ist der Ausgang (Jenseits) (al-Baqara, 285).

Deswegen halten sie es für sehr wahrscheinlich, den in der Überlieferung tradierten sechsten Glaubensartikel „al-Qadar“ als eine spätere Fälschung zu entlarven, die insbesondere im Zuge der Omayyadischen Herrscherdynastie, Zugang in die schriftlichen Quellen gefunden hat.51 Die Überlieferungen seien hernach in einer besorgniserregenden Lage strukturiert, gesammelt und verschriftlicht worden. Nach Kritikern sollte insbesondere auch dagegen sprechen, dass einer der wichtigsten sechs sunnitischen Hadith-Sammler Muslim ibn al-Hadschdschadsch (820-875) in seiner Überlieferung zu al-Qadar zwar zweimal diese in der Reihenfolge erwähnt, jedoch an einer anderern Stelle nur die fünf Glaubenssätze ohne al-Qadar wörtlich wiedergibt.52 Andererseits erschöpft sich der Qur´ān sicherlich nicht aus den drei zitierten Versen, was ausschließlich die Glaubensinhalte betreffen sollen. Demgegenüber verlangt die Schrift nicht ihr selektiv, sondern als ganzes als Rechtleitung zu glauben:

Dies Buch, daran ist kein Zweifel, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen“ (al-Baqara, 2).

Der Vers: „Die den Qur´ān zerstückeln“ kann demnach auch bedeuten, nur partiell den Qur´ān aufzufassen, bzw. nur bestimmte Teile von dessen zu akzeptieren.53

Fairerweise sollte deshalb der gesamte Qur´ān in Betracht gezogen werden, was insbesondere die Glaubenssätze anbelangt. In dieser Relation scheint der nachfolgende Qur´ānvers relevant zu sein:

Kein Unheil geschieht auf Erden oder euch selbst, das nicht in einem Buch stünde, bevor Wir es geschehen lassen. Das ist Allāh fürwar ein leichtes“ (al-Hadid, 22).54

Nach dem Koranexegeten Ibn Kathīr (1300-1373) bezeugt gerade dieser Vers unumstößlich, dass Allāh schon vor der Schöpfung über künftige Dinge – die noch nicht eingetroffen sind – unbezweifelbar schon vorher Bescheid weiß.55

Selbstverständlich darf der Glaube an die Vorherbestimmung keineswegs dahin gedeutet werden, dass die Geschöpfe von Allāh determiniert sind. Der Schöpfer hat den Menschen die Freiheit gewährt, eine Wahl zwischen Gut und Böse zu treffen:

Machten wir ihm denn nicht Augen, eine Zunge und zwei Lippen? Und führten ihn die zwei Wege (des Guten und des Bösen)? (al-Balad, 8-10).

Bei einer Seele und dem, der sie gestaltete und ihr Gottesferne und Gottesfurcht einpflanzte! (asch-Schams, 7-8).

Darüber hinaus versichert Allāh nachweislich, keinem Individuum Unrecht zuzufügen:

Siehe, Allāh tut nicht einmal im Gewicht eines Stäubchens Unrecht. Und wenn es eine gute ist, wird Er sie verdoppeln und großen Lohn von Sich geben“ (an-Nisa, 40).

Wie könnte der Barmherzige auf der einen Seite seine Geschöpfe eigenmächtig determinieren und auf der anderen Seite wiederum sie ungeachtet ihrer Verantwortung zur Rechenschaft ziehen? Abschließend sei nochmals mit einer Anekdote des Gesandten Allāhs daran erinnert, wie ein gesundes Gottvertrauen (At-Tawakkul) auszusehen habe:

Muhammad ibn Īsā at-Tirmidhī (824-892) überliefert von Al-Mughira, der sagte: „Ich hörte Anas Ibn Malik sagen: Ein Mann kam zum Gesandten und sprach: Oh Gesandter Allāhs, soll ich mein Kamel anbinden und vertrauen oder nicht anbinden und vertrauen? Der Gesandte antwortete: Binde es an und vertraue (auf Allāh)“.56

1 Siehe hierzu: Islam-Lexikon, Bd. 1, S. 73, Hrsg. Khoury/Hagemann/Heine, Verlag Herder 1991.

2 Vgl. hierzu das Vorwort von Annemarie Schimmel in: Der Islam als Alternative, S. 14-15, Cagri Yayinlar, 6. Auflage, Istanbul 2010.

3 Bürgel, Johann Christoph, Allmacht und Mächtigkeit, S. 71, Verlag C. H. Beck, München 1991.

4 Vgl. Özdil, Ali Özgür, Was ist Islam, S. 53, 4. Auflage Köln, Juni 2009.

5 Ausführlicher zu lesen in: Sanac, Fuat, Der Islam – Kultur und Geschichte, Wirtschaft und Wissenschaft, S 265, 1. Auflage, FAY Austria, September 2009.

6 Vgl. Anwander, Anton, Wörterbuch der Religion, S. 582, Echter Verlag 1962.

7 Vgl. Metzler Philosophie Lexikon, S. 408-409, Verlag J.B. Metzler 1996.

8 Zitiert aus: Röm. 8, 28-30. Vgl. auch Eph. 1, 3-14.

9 Luther, Weimarer Ausgabe, Bd. 18, S. 755, Weimar 1883.

10 Zitiert aus: Al-Fiqh Al-Akbar – Die Fundamente des Glaubens, übersetzt und kommentiert von Ali Ghandour, S. 15-16 , Verlag Kalbi Kitaplar (ohne Datum).

11 Abū Dā´wūd: Sunna 16. An-Nasā´ī: īmān 5, 6.

12 Siehe hierzu: Al-Fiqh Al-Akbar – Die Fundamente des Glaubens, übersetzt und kommentiert von Ali Ghandour, Verlag Kalbi Kitaplar, S. 16, Fußnote 13, ohne Datum.

13 Ebenda, S. 38.

14 Überliefert bei Muslim Nr. 2653.

15 Ebenfalls bei Muslim Nr. 2664 überliefert.

16 Feinheiten Islamischen Glaubens – Islamischer Katechismus, S. 16, Astec Verlag ohne Datum.

17 Handbuch Islam, S. 68, Spohr Verlag 2005.

18 Vgl. Al-Aqida – Einführung in die Iman-Inhalte, S. 14, 2., neubearb. und erw. Auflage, Adib Verlag 1999.

19 Ebenda, S. 62.

20 Vgl. Kitab al-maarif (Buch der Auszeichnungen), S. 267, (Hrsg.) Servet Ukkase, Kairo Ausbabe 1960.

21 Süt, Abdulnasir, Islam Düsüncesinde ilk Muhalif: Ma´bed el-Cüheni (The First Rival in Islamic Thought), http://dergipark.ulakbim.gov.tr/kader/article/viewFile/1076000159/1076000157 (abgerufen am 20.06.16).

22 Siehe im Detail: Abū Zahra, Muhammed, Abu Hanifa – Leben und Werk des ehrenhaften Großgelehrten, S. 183-187, Ilm Verlag, 1. Auflage, April 2012.

23 Vgl. Sanac, Fuat, Der Islam – Kultur und Geschichte – Wirtschaft und Wissenschaft, S. 264-269, Verlag FAY Austria, 1. Auflage, September 2009.

24 Siehe ausführlich dazu: Abū Zahra, Muhammed, Abu Hanifa – Leben und Werk des ehrenhaften Großgelehrten, S. 326-328, Ilm Verlag, 1. Auflage, April 2012.

25 Vgl. Ess, Josef van, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra-Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Bd. 1, S. 207, de Gruyter 1990.

26 Ebenda, S. 327-328.

27 Vgl. Hofmann, Murad Wilfried, Der Islam als Alternative, S. 34, 6. Auflage, Cagri Yayinlari, Istanbul 2010.

28 Vgl. Bayrakli, Bayraktar, Kur´an Tefsiri, Bd. 1, S. 198-205, Bayrakli Yayinlari, 3. Basim, Istanbul 2007.

29 Vgl. Asad, Muhammad, Die Botschaft des Koran, S. 29, Fußnote 7, Patmos Verlag, 2. Auflage 2011.

30 Siehe zum Begriff „Taqlid“ die Dissertation von Kathrin Eith „Koranexegese bei Yasar Nuri Öztürk-Ein traditionskritischer Entwurf des Islams in der Türkei“, S. 313-322, Ergon Verlag 2013.

31 Ausführlicher dazu in: Abū Zahra, Muhammed, Abu Hanifa – Leben und Werk des ehrenhaften Großgelehrten, S. 184, Ilm Verlag, 1. Auflage, April 2012.

32 Annemarie, Schimmel, Die Religion des Islam – Eine Einführung, S.69, Verlag Reclam 1990.

33 Siehe ausführlich dazu: Hughes, Thomas Patrick, Lexikon des Islam, S. 584-587, Orbis Verlag, Lizenzausgabe 1995. Aber auch „Islam Lexikon“, S. 207-208, von Monika und Udo Tworuschka, Patmos Verlag 2002.

34 Vgl. Al-Aqida – Einführung in die Iman-Inhalte, S. 215, 2., neubearb. und erw. Auflage, Adib Verlag 1999.

35 Zitiert aus: Der Islam-Innere Wirklichkeit und äußere Form, S. 117-118, Erkam Verlag, Istanbul 2004.

36 Özdil, Ali Özgür, Was ist Islam, S. 56, 4. Auflage, Kitap Kulübü Köln, Juni 2009.

37 Hofmann, Murad Wilfried, Islam-Kompakt, S. 36-37, 2. Auflage, Diederichs Verlag 2001.

38 Zitiert aus: Eaton, Charles Le Gai, Der Islam und die Bestimmung des Menschen, S. 359, 2. Auflage, Verlag Diederichs 1994.

39 Überliefert bei Muslim, Hadith Nr. 6450.

40 Hirnforscher als Psychoanalytiker, in: C. Geyer, Hirnforschung, S. 28.

41 Qur´ān, 21:23.

42 Al-´Aqīda Al-Tahāwiyya (Die Glaubenslehre des Imam Al-Tahawi), S. 24, ins Deutsche übertragen von Abd Al-Hafidh Wentzel, Warda Publikationen 2006.

43 Atay, Hüseyin, Kur´an´da iman Esaslar (Die Glaubenslehre nach dem Qur´ān, S. 146-147, Atay Yayinevi 1998.

44 Siehe zum Dialog zwischen dem Kalifen Abd al-Malik und Hasan al-Basri: Navid Kermani, Der Schrecken Gottes-Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, S. 126-127, 1. Auflage in der Beck´schen Reihe, 2011.

45 Neuerdings mit dem arabischen Orginaltext (vokalisiert) und mit der türkischen Übersetzung von Mustafa Islamoglu in Düsün Verlag (Istanbul, 2012) publiziert.

46 Hans Küng hält das Sendschreiben von Hasan al-Basri durchaus für authentisch, vgl. Der Islam, Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 283, ungekürzte Taschenbuchausgabe, Mai 2006. Siehe aber auch: Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra-Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Bd. 2, S. 46-47, Verlag Walter de Gruyter, 1991.

47 Vgl. Akyol, Mustafa, Özgürlügün islami Yolu (Islam without Extremes: A Muslim Case for Liberty), S. 75-77, Dogan Kitap, 3. Baski 2013.

48 Zitiert nach: Islamoglu, Mustafa, Imamlar ve Sultanlar (Imame und Sultane), S. 159, Düsün Yayincilik, 40. Baski 2015.

49 Taʾrīḫ ar-rusul wa-’l-mulūk wa-’l-ḫulafā (türkische Ausgabe: Tarih-i Taberi), Bd. 4, S. 114, Saglam Yayinlari.

50 Vgl. Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, S. 138, 3. Auflage, Schiler Verlag 2010.

51 Einschlägige Quellen schreiben über die Niederschrift der Hadithe, das sie auf das Befehl des Omayyadischen Kalifen Umar ibn Abd al-Azīz (Regierungszeit, 717-720) zurück geht. Siehe hierzu besonders „Adva Ala es-Sunneti´l-Muhammediyyeh Difa ani´l-Hadis (türkisch: Muhammedi sünnetin aydinlatilmasi), von Mahmud Abū Rayya.

52 Vgl. Islamoglu, Mustafa, Hasan el-Basri´nin Kader Risalesi ve Serhi (Das Sendschreiben von Hasan al-Basri), S. 122-123, Düsün Yayincilik, Istanbul 2012.

53 Siehe dazu die Fußnote 1, S. 267, Der Koran -arabisch-deutsch, Überarbeitung und Einleitung von Dr. Murad Wilfried Hofmann, Cagri Yayinlari, 2. Auflage 2013, Istanbul.

54 Vgl. auch al-Burudsch, 21-22.

55 Vgl. Tafsir al-quran al´adhim, Bd. 9, S. 303-305, Kahraman Yayinlari, Istanbul 2010.

56 Vgl. At-Tirmidhi, Qiyama, 60.

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

Kommentar

  • Hallo, Herr Ecevit,
    ic möchte zurückkommen auf Ihren „authentischen Koran“. Die Vorstellung, es habe einen zu Lebzeiten Mohammeds schriftlich fixierten sozusagen kanonisierten Koran gegeben, halte ich für absurd, auch wenn sie dies Ihren Lesern weismachen wollen. Vielleicht könnten Sie darstellen, von welchen Quellen die drei deutschen Übersetzer ausgehen bzw die fünf französischen Übersetzer des „Korans“*.

    *vgl. M. Onfray: Penser l’islam.

    Gruß
    Peter C. Zeller

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