Ist der Gesichtsschleier eine Pflicht für die muslimische Frau?

Ein Merkmal und Zeichen der persönlichen Identifikation vieler muslimischer Frauen ist es, einen Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit zu tragen. Man könnte an die Burkas, die von Frauen in Afghanistan getragen werden denken, aber auch an den Gesichtsschleier in Saudi Arabien, die einen besonderen Ausdruck der Frömmigkeit nach außen hin ausdrücken soll. Auch auf den Straßen der westeuropäischen Länder ist es zunehmend zu beobachten, dass im Gegensatz vor zwanzig Jahren die Anzahl der Frauen deutlich zugenommen hat, die vollverschleiert sind.

Frankreich ging sogar so weit, dass durch ein Gesetz, das am 11-04.2011 in Kraft trat, das Tragen einer Burka in der Öffentlichkeit verboten wurde.

Tatsächlich gilt der Gesichtsschleier für viele islamische Gelehrte als eine unumgängliche Pflicht, weil vor allem  Frauen dadurch in der Öffentlichkeit als Ehrbare gekennzeichnet werden (siehe hierzu: el-Camiu li-Ahkami´l-Kur´an, Qurtubi, Bd. 14, S. 187-189).

Die Befürworter eines Gesichtsschleiers berufen sich hauptsächlich auf den Koranvers: „O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (dann) erkannt und nicht belästigt werden. Und Gott ist Allverzeihend, Barmherzig“ (Koran 33:59).

Im Jahre 2006 veröffentlichte die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung eine Publikation, in der zu dem oben angeführten Koranvers folgender Hinweis gegeben wird: „Mancherorts bedecken sich die Frauen mit zusätzlichem Mund- oder Gesichtsschleier und lassen gar nur noch- wenn überhaupt!-, ein Auge frei“  (Islamische Kultur und Geschichte, Peter Ortag, S. 29).

Unmittelbar nach der Eroberung von Konstantinopel im Jahre 1453, ordnete nun der neue Herrscher Fatih Sultan Mehmet an, dass die muslimischen Frauen nur noch einen weißen oder cremefarbenen Gesichtsschleier zu tragen haben. Im Unterschied zu den byzantinischen Frauen, die ihren Gesichtsschleier hauptsächlich nur in Schwarz trugen,  sollte diese Entscheidung des Sultans ein Unterscheidungsmerkmal der religiösen Trägerinnen (Christinnen und Musliminnen) markieren: „Als Sultan Mehmet 1453 Herrscher von Konstantinopel wurde, sah er sich genötigt, die Verschleierung der osmanischen Frauen neu zu regeln, da sich ihre Schleier nicht genügend von denen der christlichen Frauen unterschieden. Er ordnete an, dass die muslimischen Frauen Istanbuls ein weißes oder cremefarbenes Kopftuch mit einem durchsichtigen Gesichtsschleier der gleichen Farbe tragen sollten, während die Christinnen in schwarzem Tuch zu gehen hatten“ (Verschleierte Wirklichkeit- Die Frau, der Islam und der Westen, Christina von Braun/Bettina Mathes, S. 75-76).

Für Professor Muhammed Hamidullah (gest. 2002) stellt der Gesichtsschleier eine tiefgehende Weisheit dar. Diese Weisheit lässt sich nach Muhammed Hamidullah wie folgt zusammenfassen:

° Beim Bedecken des Gesichts wird die Schönheit und die junge Haut der Frau bewahrt. Vergleicht man die Haut der Frau, die auf den Feldern arbeitet und der heißen Sonne ausgesetzt ist, mit der Haut der Frau, die ihre Haut durch den Schleier schützt, würde man zweifelsohne den Unterschied erkennen.

° Es gibt Frauen, die sich von Natur aus schämen und sich nicht trauen, anderen Menschen aufgrund ihrer Hässlichkeit zu begegnen. Deshalb würde ihnen das Bedecken des Gesichts eine Möglichkeit einräumen, in der Öffentlichkeit nicht diskriminiert zu werden (Der Prophet des Islam, Muhammed Hamidullah, S. 892-893).

O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (dann) erkannt und nicht belästigt werden“ (Koran 33:59).

In der Koranausgabe nach der Übersetzung von Dr. Nadeem Elyas und Abdullah Frank Bubenheim, heißt es in einer Fußnote zu dem oben aufgeführten Koranvers: „Nämlich als freie, ehrbare Frauen, im Gegensatz zu den nicht ehrbaren Frauen“ (Übersetzungen der Bedeutungen des edlen Qur´an in die deutsche Sprache, S. 534).

Die Sozialwissenschaftlerin und freie Autorin Dr. Hiltrud Schröter deutet die Fußnote als ein Affront gegen alle unverschleierten Frauen. Denn so könnte leichtfertig geschlussfolgert werden, dass alle nichtverschleierten Frauen als unkeusch stigmatisiert würden: „Damit stehen also alle Frauen ohne islamischen Schleier im Verdacht, nicht ehrbar zu sein. Das ist eine Beleidigung. Die Aussage lässt die Deutung zu: Unverschleierte Frauen sind Huren und können sexuell benutzt werden“ (Das Gesetz Allahs, Hiltrud Schröter, S. 144).

In der islamischen Koranexegese wird der Koranvers 33:59 unterschiedlich gedeutet. Für den pakistanischen Koranexegeten Sayyid Abul Ala Maududi (gest. 1979) besteht indes kein Zweifel daran, dass der Gesichtsschleier für die muslimische Frau eine unabdingbare Pflicht sei: „Für jeden vernunftmäßigen Menschen wird es ersichtlich sein, dass die Bedeckung der Körperkonturen und des Schmucks (türkisch: zinetleri), mitsamt auch dem Gesicht bedeckt werden müssen“ (Maududi, Tefhimu´l-Kur´an, Bd. 4, S. 459, Insan Yayinlari).

Die frühsten Korankommentatoren scheinen zur Auslegung des betreffenden Koranverses 33:59 einen Konsens getroffen zu haben. Im ältesten und bis heute überlieferten Tafsir Werk von Mukatil bin Süleyman (gest. 767) wird detailliert geschildert, weshalb der Vers 59 der Sure 33 geoffenbart wurde. Hiernach verließen die Frauen abends die Wohnung, um ihre Notdurft draußen zu entrichten. Unbändige Männer lauerten jedoch im Freien auf diese Frauen und belästigten sie sexuell. Etwas später wurde dann im Koran (33:59) geoffenbart, dass von nun an sich die freien Frauen beim Entrichten ihrer Notdurft einen Übergewand über sich anziehen sollten, so dass ihre Gesichter dadurch bedeckt und sie vor allem als freie Frauen erkannt und nicht als Sklavinnen sexuell belästigt wurden (siehe hierzu: Tefsir-i Kebir, Mukatil ibn Süleyman, Bd. 3, S. 403-404).

Ibn Kesir (gest. 1373) erläutert den geschilderten Koranvers 33:59 mit einer Reihe von Überlieferungsmaterial der ersten Generation der Sahabis (Weggefährten des Propheten).

Zumal wird dort ausgiebig berichtet, dass die Frauen nach der Offenbarung des Verses (33:59) nur noch die Augen durch einen Schlitz für das Sehen geöffnet hielten. Eine andere tradierte Überlieferung berichtet, dass von nun an nur noch das linke Auge durch einen Schlitz für das Sehen ermöglicht gewesen sei. Interessant ist unter anderem der Satz in der Überlieferung: „Durch das Tragen der Übergewänder werden die freien Frauen sowohl von der Zeit der Unwissenheit (cahiliye) und besonders von dem Status der Sklavinnen (cariyeler) abgesondert“. Von Mucahit (gest. 723) wird der folgende Satz überliefert: „Die freien Frauen sollten die Übergewänder über ihren Haupt anziehen, damit sie als freie Frauen erkannt und nicht wie die Sklavinnen (cariyeler) genötigt werden“   (siehe hierzu: Tefsir´ul-Kur´an´il-Azim. Bd. 7, S. 557)

Für den Theologen Professor Süleyman Ates ist das Tragen eines Niqabs (Gesichtsschleier) eine für die damalige Zeit begründete Maßnahme gewesen. Damals konnte es in seiner Funktion als Schutzmaßnahme gedient haben. Heute gibt es jedoch in der wandelnden Zeit keine religiöse Rechtfertigung mehr dazu. Deshalb wäre es von großer Bedeutung, den Gesichtsschleier im historischen Kontext zu verorten. Im Gegenteil dazu schildern sämtliche Koranverse daraufhin, dass das nicht Bedecken des Gesichts auch für die damalige Zeit eine normale Erscheinung für die Frauen darstellte. So heißt es dort: „Es ist dir nicht erlaubt, künftig (andere) Frauen (zu heiraten), noch sie gegen (andere) Frauen einzutauschen, auch wenn ihre Schönheit dir gefällt“ (Koran 33:52).

In diesem Koranvers wird der Prophet Muhammed (s) angesprochen, so dass er ab sofort keine Frau mehr heiraten dürfe. Der Vers erwähnt dabei einen sehr wichtigen Punkt, nämlich, dass der Prophet auch dann nicht heiraten darf, selbst wenn ihre Schönheit ihm gefallen sollte: „auch wenn ihre Schönheit dir gefällt“ (Koran 33:52). Dies ist ein klarer Hinweis dafür, dass der Prophet die Frauen mit ihren Gesichtern betrachtete, denn wie sonst könnten ihm die Frauen gefallen haben? Deshalb wird aus diesem Vers ersichtlich, dass die Frauen im Alltag nicht verpflichtet waren, unter allen Umständen einen Gesichtsschleier zu tragen (siehe hierzu: Süleyman Ates, Gercek Din bu, Bd. 1, S. 75).

Im Hadith-Korpus von Abu Dawud (gest. 889) werden zahlreiche Überlieferungen vom Propheten Muhammed (s) tradiert, wonach es in der Pilgerfahrt verboten ist, das Gesicht und die Hände zu bedecken: „Wenn die Frauen im Weihezustand (auf der Pilgerfahrt) sind, so sollen sie ihre Hände und Gesichter nicht bedecken“ (Sunen Abu Dawud, Bd. 2, S. 682, Erkam Yayinlari). Wenn der Niqab eine absolute Pflicht wäre, so wäre es in der Tat sinnlos, diese auf der Pilgerfahrt zu verbieten.

Der muslimische Buchautor Dr. Murad Wilfried Hofmann hofft deshalb sagen zu können, dass der Gesichtsschleier baldigst aus der Öffentlichkeit verschwindet, da der Koran keine religiöse Legitimation für die Frauen darin vorschreibt. Deshalb schlussfolgert er: „Daher ist der Gesichtsschleier denn auch auf dem Rückzug, auch in Saudi-Arabien, und verschwindet hoffentlich bald ganz“ (Der Islam im 3. Jahrtausend, Verlag Diederichs, S. 146).

ÜBER DEN AUTOR

Ecevit Polat

7 Kommentare

  • Slm sehr gute Quellen sehr guter Artikel

    Ich will noch folgendes ergänzen – undzwar geht es um die rituelle Waschung die auch auf dem Kopf begangen wird – Prof Yasar Nuri Öztürk sagt in seinem Buch „Kutandaki Islam“ auf S.432 das die rituelle Waschung Männer und Frauen nebeneinander begannen

    Die Stellen wo man die rituelle Waschung begeht sind nicht unter Bedeckungszwang

    – dies sagen der irakische Rechtsgelehrte Ibrahim en – Nahi (gest. 96 / 714) Imam Ebu Yusuf (gest. 182 / 798) Imam es – Serahsi (gest. 1090) usw

    aus Taberi Tefsir (18/120)

  • wie immer sehr schön dargelegt
    die Forderung ‚mit der Zeit zu gehen‘, wie im Koran/Hadith auch dargelegt ist, wird hier sehr klar formuliert

    allerbesten Dank!

  • Frau Dr. Hiltrud Schröter habe ich vor knapp 6 Jahren beim evangelischen Kirchentag in Köln getroffen. Damals war ich kurz vor meiner Konvertierung. Wie sie damals über muslimische Frauen gesprochen hatte, war für mich sehr schwierig anzunehmen, aber nun ja, es gibt unterschiedliche Meinungen.

  • Selam Caroline, da kann ich Dir 100 % zustimmen. Frau Schröter ist generell dem Islam sehr kritisch eingestellt. Dies wird unter anderem aus ihren Veröffentlichungen deutlich, besonders durch ihre Publikation: „Das Gesetz Allahs“. Es gibt dennoch einige Stellungnahmen in dem Buch, die ich auch unterstreichen könnte.

  • Gegen den Schleier spricht noch folgende Überlieferung aus Sahih Muslim, Book of Marriage (Kitab al-Nikah), Hadith Nr. 3457:

    „Abu Huraira (Allah be pleased with him) reported Allah’s Messenger (may peace be upon him) as saying: A woman may be married for four reasons: for her property, her status. HER BEAUTY and her religion(…)“.

    Wenn man die Frau gar nicht sehen könnte dank eines Schleiers, wie könnte dann die Schönheiet einer Frau erkennen?

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